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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Schreibmaschinen, den Klang von Stimmen und empfand wie ein Sohn, wie ein Bruder seine Verbundenheit mit der vertrauten Welt der Waffenkameradschaft, der Partei und seiner Kampfgefährten aus der SS. Er sah sie im Licht des Sonnenuntergangs – das Leben schwand.
    Als er zu Halbs Arbeitszimmer kam, wusste er noch nicht, worum sich das Gespräch drehen würde – vielleicht wollte der SS-Obersturmbannführer ihm sein Herz ausschütten.
    Wie es häufig unter Männern geschah, die in Friedenszeiten gemeinsam Parteiarbeit geleistet hatten und sich gut kannten, schenkten sie ihren unterschiedlichen Rängen keine Beachtung und gingen kameradschaftlich miteinander um. Wenn sie sich trafen, plauderten sie über Privates und sprachen gleichzeitig über dienstliche Angelegenheiten.
    Lehnard verstand es, mit wenigen Worten den Kern einer komplizierten Sache zu erfassen, und seine Worte erreichten manchmal auf einem langen Weg durch die verschiedenen schriftlichen Berichte die höchsten Instanzen in Berlin.
    Lehnard betrat Halbs Arbeitszimmer und erkannte ihn nicht wieder. Während er Halbs volles, noch nicht abgemagertes Gesicht betrachtete, begriff er nicht sofort, woran es lag, denn nur der Ausdruck der dunklen, klugen Augen hatte sich verändert.
    An der Wand hing eine Karte des Stalingrader Gebietes, und ein undurchdringlicher, feuerroter Ring umspannte die 6. Armee.
    »Wir sind auf einer Insel, Lehnard«, sagte Halb, »und unsere Insel ist nicht von Wasser, sondern vom Hass der Barbaren umgeben.«
    Sie unterhielten sich über die russische Kälte, russische Filz-Stiefel, russischen Speck, über die Tücke des russischen Wodkas, der einen erst erwärmt und dann erfrieren lässt.
    Halb fragte, ob sich das Verhältnis zwischen Soldaten und Offizieren an der vordersten Front verändert habe.
    »Wenn ich’s mir so überlege«, sagte Lehnard, »sehe ich keinen Unterschied zwischen den Gedanken eines Obersten und denen eines einfachen Soldaten. Das ist, im Grunde genommen, das gleiche Lied – von Optimismus ist da keine Rede.«
    »Wie bei den Truppen wird dieses Lied auch im Stab gesungen«, sagte Halb und fügte ohne Eile hinzu, um die Wirkung seiner Worte zu verstärken: »Und der Vorsänger ist der Generaloberst.«
    »Man singt, aber Überläufer gibt es nach wie vor nicht.«
    Halb sagte: »Ich habe eine Anfrage erhalten, die mit einem Kernproblem verbunden ist: Hitler besteht auf der Verteidigung der 6. Armee, Paulus, von Weichs und Zeitzier sprechen sich hingegen für die physische Rettung der Soldaten und Offiziere aus und schlagen die Kapitulation vor. Ich habe den Befehl, so diskret wie möglich festzustellen, ob die Wahrscheinlichkeit besteht, dass die in Stalingrad eingekesselten Truppen zu irgendeinem Zeitpunkt meutern könnten. Die Russen nennen das ›wolynka‹ .«
    Er sprach das russische Wort deutlich, sauber, lässig aus.
    Lehnard begriff den Ernst der Frage und schwieg. Dann sagte er: »Ich möchte mit einem spezifischen Fall anfangen.« Und er erzählte von Bach: »In der Kompanie von Bach gibt es einen obskuren Soldaten. Früher wurde er von den Jungs immer verspottet, aber jetzt, seit der Einkesselung, fühlen sie sich zu ihm hingezogen, orientieren sich an ihm … Ich habe mir über die Kompanie und den Kompanieführer Gedanken gemacht. In den Zeiten des Erfolgs begrüßte dieser Bach die Politik der Partei von ganzem Herzen. Jetzt aber, so vermute ich, geht in seinem Kopf etwas anderes vor, er beginnt, sich neu zu orientieren. Und deswegen frage ich mich: Warum fühlen sich die Soldaten seiner Kompanie von einem Typ angezogen, der früher eine Art Spaßvogel war, eine Mischung aus einem Irren und einem Clown? Was wird dieser Typ in den entscheidenden Minuten tun? Wozu wird er die Soldaten aufrufen? Was passiert dann mit dem Kompanieführer?« Er fuhr fort: »Es ist schwer, darauf eine Antwort zu finden. Aber eine Frage kann ich beantworten: Die Soldaten werden nicht meutern.«
    Halb sagte: »Jetzt ist mir die Weisheit der Partei besonders klar geworden. Wir haben, ohne zu zögern, nicht nur infizierte Stücke aus dem Volkskörper entfernt, sondern auch scheinbar gesunde Teile, die unter schwierigen Bedingungen faulen könnten. Städte, Truppen, Dörfer, Kirchen sind von feindlichen Ideologen und Anstiftern gesäubert worden. Es wird jede Menge Meckereien, Geschimpfe und anonyme Briefe geben. Aber keinen Aufruhr, selbst wenn uns der Feind nicht nur an der Wolga, sondern sogar in Berlin einkesseln sollte!

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