Leben und Schicksal
Worten hörte man die Melodien von »Carmen« oder »Faust« heraus.
Ihn interessierte nicht, was sie vor dem Krieg gewesen war. Er ging zu ihr, wenn er Lust hatte, zu ihr zu gehen, und das nicht nur, wenn er mit ihr schlafen wollte. Bach dachte nicht an sie, sorgte sich nicht, ob sie satt war, ob ein russischer Scharfschütze sie getötet hatte. Einmal holte er einen Zwieback hervor, den er zufällig in der Tasche hatte, und gab ihn ihr – sie freute sich, schenkte den Zwieback dann aber der Alten, die nebenan wohnte. Das rührte ihn, aber er vergaß fast immer, etwas Essbares mitzunehmen, wenn er zu ihr ging.
Sie hatte einen seltsamen, nicht europäisch klingenden Namen – Sina.
Sina hatte die Alte, die nebenan wohnte, vor dem Krieg offenbar nicht gekannt. Es war eine unsympathische alte Frau, schmeichlerisch und böse, über alle Maßen unaufrichtig, befallen von einer wilden Fresssucht. Auch jetzt zerstampfte sie gerade methodisch mit einem uralten Holzstößel verbrannte, nach Petroleum riechende schwarze Weizenkörner in einem Mörser.
Nach der Einkesselung hatten die Soldaten begonnen, in die Keller der Einwohner zu steigen – vorher hatten sie die Einwohner gar nicht bemerkt. Nun aber hatten sie in den Kellern viel zu tun: Man wusch die Wände mit Asche statt mit Seife, kochte Essen aus Abfällen, flickte, stopfte. Es waren vor allem die alten Frauen, die in den Kellern den Ton angaben. Aber die Soldaten gingen nicht nur zu den Alten.
Bach glaubte, dass niemand von seinen Besuchen im Keller wusste. Aber einmal, als er auf der Pritsche bei Sina saß und ihre Hände in seinen Händen hielt, hörte er hinter dem Vorhang seine Muttersprache, und eine ihm bekannt vorkommende Stimme sagte: »Hinter diesem Vorhang hast du nichts zu suchen, da wohnt das Fräulein vom Oberleutnant.«
Jetzt lagen sie nebeneinander und schwiegen. Sein ganzes Leben – seine Freunde, Bücher, seine Romanze mit Maria, seine Kindheit, alles, was ihn mit der Stadt verband, in der er geboren war, mit der Schule und der Universität, das Getöse des Russlandfeldzugs – all das hatte keine Bedeutung … All das war nur der Weg zu dieser Pritsche, die aus einer halbverbrannten Tür zusammengezimmert war. Entsetzen packte ihn beim Gedanken, dass er diese Frau verlieren könnte; er hatte sie gefunden, er war zu ihr gekommen – alles, was in Deutschland und in Europa geschehen war, hatte nur dazu gedient, dass er sie treffen konnte.
Damals hatte er das nicht eingesehen, hatte sie immer wieder vergessen; sie schien ihm nur deshalb lieb zu sein, weil ihn nichts Ernsthaftes mit ihr verband. Jetzt aber gab es nichts anderes auf der Welt als sie, alles war im Schnee untergetaucht. Da war ihr wunderbares Gesicht, die leicht hochgezogenen Nasenlöcher, die seltsamen Augen und dieser betörende, von Müdigkeit erfüllte kindlich-hilflose Gesichtsausdruck. Im Oktober hatte sie ihn im Lazarett gefunden, war zu Fuß zu ihm gekommen, er aber hatte sie nicht sehen wollen, war nicht zu ihr hinausgegangen.
Sie sah, dass er nicht betrunken war. Er kniete sich hin, küsste ihre Hände, ihre Beine, dann hob er den Kopf und schmiegte sich mit Stirn und Wange an ihre Knie. Er sprach schnell und leidenschaftlich, aber sie verstand ihn nicht, und er wusste, dass sie ihn nicht verstand – sie beherrschten beide ja nur die scheußliche Sprache, in der sich die Soldaten in Stalingrad verständigten.
Bach wusste, dass dieselbe Bewegung, die ihn zu dieser Frau gebracht hatte, ihn auch von ihr trennen und für immer von ihr losreißen würde. Er kniete vor ihr, umarmte ihre Beine, schaute ihr in die Augen; sie lauschte seinen schnellen Worten, wollte ihn verstehen, erraten, was er sagte, was in ihm vorging.
Sie hatte nie einen Deutschen mit einem solchen Gesichtsausdruck gesehen, hatte geglaubt, dass nur Russen so leidende, flehende, zärtliche, fiebernde Augen haben könnten.
Er sagte ihr, dass er hier im Keller, ihre Beine küssend, zum ersten Mal wirklich begriffen habe, was Liebe sei. Sie sei ihm teurer als seine Vergangenheit, seine Mutter, Deutschland, sein zukünftiges Leben mit Maria. Er liebe sie. Von Staaten errichtete Mauern, Rassenhass, der Feuerwall schwerer Artillerie – das alles bedeute nichts, sei machtlos gegenüber der Kraft der Liebe … Und er sei dem Schicksal dankbar, dass es ihm vor dem Untergang diese Einsicht geschenkt habe.
Sie verstand seine Worte nicht, denn sie kannte nur »halt«, »komm«, »bring«, »schneller«.
Aber sie
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