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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Schwester herrschte lähmende Ruhe. Viktor Pawlowitsch ging nicht zum Dienst, saß stundenlang im Zimmer. Ljudmila Nikolajewna kehrte misslaunig und wütend aus dem Sondergeschäft zurück, erzählte, dass die Frauen von Bekannten sie nicht grüßten.
    Jewgenia Nikolajewna sah, wie nervös Strum war. Bei jedem Anruf zuckte er zusammen, riss stürmisch den Hörer an sich. Mittags oder abends bei Tisch unterbrach er die Unterhaltung, sagte schroff: »Leiser, leiser, ich glaube, es klingelt jemand an der Tür.« Er ging in den Flur, kehrte verlegen lächelnd zurück. Die Schwestern begriffen, wodurch dieses ständige gespannte Warten auf ein Klingelzeichen hervorgerufen wurde: Er hatte Angst, verhaftet zu werden.
    »So entwickelt sich der Verfolgungswahn«, sagte Ljudmila. »Im Jahre 1937 waren die Nervenheilanstalten voll von solchen Menschen.«
    Jewgenia Nikolajewna, der Strums ständige Unruhe nicht entging, war besonders gerührt von seiner Haltung ihr gegenüber. Einmal sagte er: »Merken Sie sich, Genia, es ist mir zutiefst gleichgültig, was man darüber denken könnte, dass Sie in meinem Haus wohnen und sich um einen Verhafteten bemühen. Verstehen Sie? Das ist Ihr Haus!«
    Jewgenia Nikolajewna unterhielt sich abends gern mit Nadja.
    »Du bist mir viel zu klug«, sagte Jewgenia Nikolajewna zu ihrer Nichte. »Du bist kein Mädchen, sondern eher ein Mitglied des Verbandes ehemaliger politischer Häftlinge.«
    »Nicht ehemaliger, sondern zukünftiger«, sagte Strum. »Du unterhältst dich wahrscheinlich auch mit deinem Leutnant über Politik.«
    »Na und?«, sagte Nadja.
    »Sich zu küssen wäre doch besser«, sagte Jewgenia Nikolajewna.
    »Genau davon rede ich«, sagte Strum. »Wäre auf jeden Fall sicherer.«
    Tatsächlich schnitt Nadja Gespräche über heikle Themen an: Sie stellte plötzlich Fragen über Bucharin und wollte wissen, ob Lenin Trotzki geschätzt habe und Stalin in seinen letzten Lebensmonaten nicht habe sehen wollen, ob es wahr sei, dass Lenin ein Testament hinterlassen habe, das Stalin dem Volk vorenthalte.
    Wenn Jewgenia Nikolajewna mit Nadja allein war, erkundigte sie sich nicht nach Leutnant Lomow. Aber aus dem, was Nadja über die Politik, den Krieg, über die Gedichte von Mandelstam und Achmatowa, über ihre Begegnungen und Gespräche mit Freunden erzählte, erfuhr Jewgenia Nikolajewna mehr über Lomow und Nadjas Verhältnis zu ihm als Ljudmila.
    Lomow war offenbar ein scharfsinniger Bursche mit einem schwierigen Charakter, der alles Anerkannte und Festgelegte verspottete. Er schrieb wohl selbst Gedichte, und von ihm hatte Nadja offenbar die geringschätzige Einstellung zu Demjan Bedny und Twardowski und die Gleichgültigkeit gegenüber Scholochow und Nikolai Ostrowski übernommen. Wahrscheinlich waren es auch seine Worte, die Nadja mit einem Achselzucken vorbrachte: »Revolutionäre sind entweder dumm oder unehrlich – man darf nicht das Leben einer ganzen Generation einem künftigen, fiktiven Glück opfern.«
    Einmal sagte Nadja zu Jewgenia Nikolajewna: »Weißt du, Tantchen, die ältere Generation muss unbedingt immer an etwas glauben: Krymow an Lenin und den Kommunismus, Papa an die Freiheit, Großmutter an das Volk und die Werktätigen, aber wir, die jüngere Generation, finden das alles blöd. Es ist überhaupt dumm, an etwas zu glauben. Man muss ohne Glauben leben.«
    Jewgenia Nikolajewna fragte unvermittelt: »Ist das die Philosophie des Leutnants?«
    Nadjas Antwort verblüffte sie: »In drei Wochen kommt er an die Front. Das ist die ganze Philosophie: Man hat gelebt und vorbei.«
    Bei den Gesprächen mit Nadja erinnerte sich Jewgenia Nikolajewna an Stalingrad. Genauso hatte auch Vera mit ihr gesprochen, genauso hatte sich auch Vera verliebt. Aber welch ein Unterschied zwischen dem einfachen, klaren Gefühl Veras und Nadjas Wirrwarr. Welch ein Unterschied zwischen Genias damaligem Leben und ihrem heutigen Alltag. Wie unterschiedlich waren die damaligen Gedanken über den Krieg und die jetzigen in den Tagen des Sieges. Aber der Krieg ging weiter, und es war nicht zu rütteln an dem Satz, den Nadja gesagt hatte: »Man hat gelebt und vorbei.« Dem Krieg war es gleichgültig, ob der Leutnant sang und Gitarre spielte, ob er als Freiwilliger auf die gigantischen Baustellen ging, weil er an das zukünftige Paradies des Kommunismus glaubte, ob er die Gedichte von Innokenti Annenski las und nicht an das fiktive Glück künftiger Generationen glaubte.
    Einmal zeigte Nadja Jewgenia Nikolajewna

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