Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
aus Deutschland von einem Piloten eingeflogen wurde, der über Stalingrad eine so schwere Verletzung erlitt, dass er nach der Landung in Pitomnik nur noch tot aus der Kabine geborgen werden konnte.«
    37
    Die Männer hielten die Zweige auf ihren Handflächen. Die Tannen erwärmten sich in der Bunkerluft, bedeckten sich mit winzigen Tautropfen und erfüllten den Unterstand mit Tannenduft, der den schweren Dunst von Leichenschauhaus und Schmiede vertrieb – den Geruch der vordersten Front.
    Es war, als gehe dieser Weihnachtsgeruch von dem grauhaarigen Kopf des Alten aus, der am Ofen saß.
    Bachs empfindsame Seele spürte die wehmütige Schönheit dieses Augenblicks. Die Männer, die die Kraft der russischen Artillerie verachteten, die von Hunger und Läusen gequält wurden, Männer, die hart, grob und vom Munitionsmangel nervös geworden waren – diese Männer gestanden sich schweigend ein, dass sie weder Mullbinden noch Brot, noch Sprengkörper brauchten, sondern genau diese Tannenzweige, umhüllt von unnützem Zellophan, diese Schokoladenkugeln aus einem Waisenhaus.
    Die Soldaten umringten den auf der Kiste sitzenden alten Mann. Im Sommer hatte er die motorisierte Vorausdivision zur Wolga geführt. Sein ganzes Leben, überall und immer war er Schauspieler gewesen. Er schauspielerte nicht nur vor der Truppe und im Gespräch mit dem Befehlshaber, sondern auch zu Hause vor seiner Frau, während der Spaziergänge im Garten, vor seiner Schwiegertochter und seinem Enkelkind. Auch nachts, wenn er allein im Bett lag und daneben seine Generalshose über dem Sessel hing, war er Schauspieler. Und wie selbstverständlich schauspielerte er vor den Soldaten. Er schauspielerte, wenn er sie nach ihren Müttern fragte, wenn er die Stirn runzelte und derbe Scherze über ihre Liebschaften machte, wenn er sich für den Inhalt des Soldatentopfes interessierte und übertrieben ernst die Suppe kostete. Er war Schauspieler, wenn er sein strenges Haupt vor den noch offenen Soldatengräbern neigte und wenn er betont herzliche, väterliche Worte zu den Rekruten sprach. Diese Schauspielerei kam nicht von außen, sondern aus seinem Innern, sie war Teil seiner Gedanken, seines Wesens. Er wusste nichts davon; man konnte ihm die Schauspielerei ebenso wenig nehmen, wie man Salz aus Salzwasser filtern kann. Diese Schauspielerei war mit ihm in den Kompanieunterstand gekommen. Sie zeigte sich darin, wie er seinen Mantel aufknöpfte, sich auf die Kiste vor dem Ofen setzte, wie er die Soldaten ruhig und kummervoll ansah und ihnen frohe Weihnachten wünschte. Der Alte hatte nie etwas von seiner Schauspielerei gemerkt, doch plötzlich durchschaute er sie, und sie verschwand, fiel von seinem Wesen ab – wie durch Frost auskristallisiertes Salz aus gefrorenem Wasser.
    Ein schales, greisenhaftes Mitleid mit den hungrigen, geschundenen Männern stellte sich ein. Da saß nun ein hilfloser, schwacher alter Mann unter hilflosen, unglücklichen Männern.
    Einer der Soldaten begann leise zu singen:
    »O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter …«
    Zwei oder drei heisere Stimmen fielen ein. Der Tannenduft berauschte die Sinne, und die Worte dieses Kinderliedes klangen wie das Geschmetter göttlicher Trompeten:
    »O Tannenbaum, o Tannenbaum …«
    Aus der kalten Finsternis des Meeresgrunds stiegen vergessene, vernachlässigte Gefühle herauf, Gedanken befreiten sich, an die man sich lange nicht mehr erinnert hatte …
    Sie brachten weder Freude noch Erleichterung. Aber ihre Kraft war eine menschliche Kraft, also die allerstärkste Kraft auf der Welt.
    Donnernd explodierten schwerkalibrige sowjetische Geschosse, eins nach dem anderen – der Iwan war missgestimmt, offenbar ahnte er, dass die Eingekesselten Weihnachten feierten. Aber niemand achtete auf den Mörtel, der von der Decke abbröckelte, keiner sah die Wolke roter Funken, die der Ofen in den Unterstand blies.
    Der Wirbel der eisernen Trommeln drosch auf die Erde ein, und die Erde schrie. Die Russen spielten mit ihrem Lieblings-Spielzeug, den Raketen-Minenwerfern. Gleich darauf begannen die schweren Maschinengewehre zu rattern.
    Der Alte saß mit gesenktem Kopf da – in der typischen Haltung von Menschen, die nach einem langen Leben müde geworden sind. Die Bühnenlichter waren ausgegangen, die abgeschminkten Akteure waren ins graue Tageslicht getreten. Die Menschen unterschieden sich jetzt nicht mehr voneinander – der legendäre General, Anführer zahlloser motorisierter

Weitere Kostenlose Bücher