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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Blitzdurchbrüche, der kleine Unteroffizier und der Soldat Schmidt, den man böser, staatsfeindlicher Gedanken verdächtigte.
    Bach dachte, dass sich Lehnard selbst in diesen Minuten nicht geschlagen geben würde; ihm wäre der innere Wandel vom staatsbewussten Deutschen zum Menschen nicht mehr möglich.
    Bach wandte den Kopf zur Tür um und erblickte Lehnard.
    38
    Stumpfe, der beste Soldat der Kompanie, der stets die schüchternen und bewundernden Blicke der Rekruten auf sich zog, hatte sich verändert. Sein großes Gesicht mit den hellen Augen war abgemagert. Uniform und Mantel waren nur mehr zerknitterte, alte Klamotten, die seinen Körper kaum vor dem russischen Wind und Frost schützten. Er hatte aufgehört, kluge Reden zu führen, über seine Witze lachte niemand mehr.
    Er litt stärker an Hunger als die anderen, weil er so groß war und mehr Nahrung brauchte.
    Der ständige Hunger zwang ihn, schon morgens auf Beutesuche zu gehen. Er grub und scharrte in den Trümmern, er bettelte, aß Reste und Krümel, wachte an der Küche. Bach hatte sich an den Anblick seines aufmerksamen, angestrengten Gesichts gewöhnt – Stumpfe dachte ununterbrochen ans Essen, er suchte es nicht nur in der Freizeit, sondern auch im Kampf.
    Als Bach sich zum Wohnkeller durchschlug, erblickte er den großen Rücken und die großen Schultern des hungrigen Soldaten. Stumpfe wühlte im Boden an der Stelle, wo einst, vor der Einkesselung, die Küchen und Lebensmitteldepots gestanden hatten. Er riss Kohlblätter aus der Erde, fand kleine, gefrorene, eichelgroße Kartoffeln, die früher wegen ihrer Winzigkeit nicht in den Topf gekommen waren.
    Hinter einer Steinmauer kam eine hochgewachsene alte Frau in einem zerlumpten, mit einem Strick gegürteten Herrenmantel und schiefgetretenen Männerstiefeln hervor. Sie ging, auf den Boden starrend, auf den Soldaten zu und stocherte mit einem Haken aus dickem Draht im Schnee.
    Sie bemerkten einander, ohne den Kopf zu heben, an den Schatten, die sich auf dem Schnee trafen.
    Der hünenhafte Deutsche hob den Kopf, sah die Alte an, hielt ihr ein durchlöchertes, gefrorenes Kohlblatt hin und sagte langsam und feierlich: »Guten Tag, Madame!«
    Die Alte schob ohne Hast das zerlumpte Tuch, das ihr in die Stirn gerutscht war, zurück, betrachtete den Soldaten mit dunklen, gütigen, klugen Augen und antwortete langsam, majestätisch: »Guten Tag, mein Herr!«
    Das war eine Begegnung auf allerhöchster Ebene, eine Begegnung zwischen den Vertretern zweier großer Völker. Niemand außer Bach bemerkte diese Begegnung, auch der Soldat und die Alte vergaßen sie sofort.
    Es wurde wärmer, große Schneeflocken legten sich auf die Erde, den roten Ziegelschutt, die Schultern der Grabkreuze, die Stirnen der toten Panzer und in die Ohrmuscheln der nicht begrabenen Toten.
    Der warme Schneenebel war von einem bläulichen Grau. Der Schnee füllte den Luftraum, gebot dem Wind Einhalt, dämpfte den Lärm des Schusswechsels, vereinte, vermengte Himmel und Erde zu einer unklaren, wogenden, weichen grauen Einheit.
    Der Schnee legte sich auf Bachs Schultern, und es war, als falle die Stille in Flocken auf die schweigende Wolga, die tote Stadt, die Pferdeskelette. Es schneite überall, nicht nur auf der Erde, sondern auch auf den Sternen, die ganze Welt war voll Schnee. Unter diesem Schnee verschwand alles: die Leichen der Gefallenen, Waffen, mit Eiter vollgesogene Lumpen, Schutt und verbogenes Eisen …
    Es war kein Schnee, sondern die Zeit selbst – weich und weiß legte sie sich in Schichten auf das Schlachtfeld der Menschen, die Stadt. Die Gegenwart wurde zur Vergangenheit, und es gab keine Zukunft in diesem taumelnden, flaumigen Flockenmeer.
    39
    Bach lag auf der Pritsche hinter einem dünnen Baumwollvorhang, in einer engen, abgetrennten Ecke des Kellers, auf seiner Schulter ruhte der Kopf einer schlafenden Frau. Die Magerkeit ließ ihr Gesicht kindlich und welk zugleich erscheinen. Bach blickte auf ihren mageren Hals und die Brüste, die weiß unter dem grauen, schmutzigen Hemd schimmerten. Leise, langsam, um die Frau nicht zu wecken, hob er ihren zerzausten Zopf an seine Lippen. Die Haare dufteten, sie waren lebendig, elastisch und warm, als fließe in ihnen Blut.
    Die Frau öffnete die Augen.
    Er kam gut mit ihr aus, manchmal war sie sorglos, zärtlich, schlau, geduldig, umsichtig, gehorsam oder aufbrausend. Manchmal war sie wie ein dummes Ding, ewig niedergeschlagen und mürrisch, manchmal sang sie, und aus den russischen

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