Leben und Schicksal
der Wahrheit auch dann, wenn er mit Ljudmila über Tolja, Nadja und Alexandra Wladimirowna sprach. Warum, wieso war alles Lüge? Sein Gefühl für Marja Iwanowna entsprang doch der Wahrheit seiner Seele, seiner Gedanken, seiner Wünsche. Warum gebar diese Wahrheit so viele Lügen? Er wusste, dass der Verzicht auf sein Gefühl Ljudmila, Marja Iwanowna und ihn selbst von der Lüge befreien würde. Aber in den Minuten, da ihm schien, dass er auf eine Liebe verzichten sollte, auf die er kein Recht hatte, vernebelte ihm ein hinterlistiges Gefühl, die Scheu vor dem Leid, den Verstand und redete ihm ein: »So schlimm ist diese Lüge ja gar nicht, keiner nimmt an ihr Schaden. Das Leid ist schlimmer als die Lüge.«
Wenn er manchmal die Kraft und Härte in sich zu finden glaubte, um mit Ljudmila zu brechen und Sokolows Leben zu zerstören, trieb ihn sein Gefühl an und täuschte seinen Verstand genau mit dem Gegenargument: »Die Lüge ist doch das Schlimmste, es wäre besser, sich von Ljudmila zu trennen, als sie zu belügen und Marja Iwanowna zur Lüge zu zwingen. Die Lüge ist schlimmer als das Leid.«
Er merkte nicht, wie sich sein Verstand allmählich seinem Gefühl unterordnete, wie sein Gefühl seine Gedanken lenkte und wie aus diesem Teufelskreis nur ein Ausweg möglich war: den Eiterherd bis ins gesunde Fleisch herauszuschneiden und sich zu opfern, nicht die anderen.
Je mehr er darüber nachgrübelte, desto weniger verstand er seine ganze Situation. Wie konnte man das alles begreifen, entwirren – seine Liebe zu Marja Iwanowna war die Wahrheit und zugleich die Lüge seines Lebens! Im Sommer hatte er immerhin eine Affäre mit der schönen Nina gehabt, und es war keinesfalls eine Primanerliebe gewesen. Mit Nina war er nicht nur spazieren gegangen. Aber das Gefühl des Verrats, des Unrechts an der Familie, der Schuld Ljudmila gegenüber ereilte ihn erst jetzt.
Auf die Lösung dieses Problems verschwendete er sehr viel seelische Kraft, Gedanken und Sorgen. Wahrscheinlich hatte Planck nicht weniger Kraft verbraucht, um seine Quantentheorie aufzustellen.
Eine Zeitlang dachte er, dass diese Liebe nur aus seinem Unglück und seinen Nöten entstanden sei. Wäre sein Leben wie gewohnt verlaufen, hätte er dieses Gefühl niemals empfunden … Aber das Leben hatte ihn wieder nach oben gebracht, und der Wunsch nach einem Wiedersehen mit Marja Iwanowna wurde nicht schwächer.
Sie war eine ganz besondere Frau – weder Reichtum noch Ruhm, noch Kraft zogen sie an. Sie hatte ja alles mit ihm teilen wollen: Unglück, Kummer, Entbehrungen. Und er sorgte sich: Wenn sie sich nun plötzlich von ihm abwandte?
Er wusste, dass Marja Iwanowna ihren Mann vergötterte. Das war es, was ihn fast verrückt machte.
Wahrscheinlich hatte Genia recht, und die zweite Liebe, die sich nach vielen Jahren des ehelichen Lebens einstellte, war tatsächlich die Folge eines seelischen Vitaminmangels. So wie die Kuh Salz lecken möchte, das sie jahrelang im Gras, im Heu, in den Blättern der Bäume gesucht und nicht gefunden hat. Dieser seelische Hunger entwickelt sich allmählich, erreicht eine ungeheure Stärke. So war es, und so ist es. Seinen seelischen Hunger kannte er ja … Marja Iwanowna hatte mit Ljudmila nicht das Geringste gemein.
Waren seine Gedanken richtig, waren sie falsch? Strum merkte nicht, dass sie nicht vom Verstand hervorgebracht wurden, ihre Richtigkeit oder Falschheit bestimmte nicht sein Handeln. Der Verstand lenkte ihn nicht. Er litt, wenn er Marja Iwanowna nicht sah, er war glücklich bei dem Gedanken, dass er sie sehen würde. Und wenn er sich vorstellte, dass sie für immer zusammen sein könnten, blieb er glücklich.
Warum verspürte er keine Gewissensbisse, wenn er an Sokolow dachte? Warum schämte er sich nicht?
Aber weshalb denn? Er hatte mit ihr ja nur einen Spaziergang im Neskutschny-Park gemacht und auf einer Bank gesessen. Ach, was hatte die Bank damit zu tun? Er war bereit, mit Ljudmila zu brechen, er war bereit, dem Freund zu gestehen, dass er seine Frau liebte und sie ihm wegnehmen wollte.
Er erinnerte sich an all das Schlechte, was er mit Ljudmila erlebt hatte. Er erinnerte sich, wie übel Ljudmila sich seiner Mutter gegenüber benommen hatte, wie Ljudmila seinen Vetter nicht in ihrer Wohnung hatte übernachten lassen, als der aus dem Lager zurückgekommen war. Er erinnerte sich an ihre Hartherzigkeit, Grobheit, Starrsinnigkeit, Grausamkeit.
Die Erinnerungen an das Schlimme verhärteten ihn. Und er musste
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