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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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an. Bagrjanow hörte auf, ihn anzurufen. Einmal begegnete er ihm: Bagrjanow, mit zwei Rauten am Kragen seiner Uniformbluse, stieg aus einem Auto, das vor dem Gebäude der Allunionsstaatsanwaltschaft hielt. Das war acht Monate nachdem der Mann im zerrissenen Hemd mit der Lagerbescheinigung in der Tasche bei Krymow nachts Reden über schuldlos Verurteilte und blinde Gewalt gehalten hatte.
    »Und ich dachte in jener Nacht, dass er für die Staatsanwaltschaft für immer verloren sei«, hatte Krymow mit einem boshaften Lächeln gesagt.
    Viktor Pawlowitsch erinnerte sich nicht ohne Grund an diese Geschichte und erzählte sie Nadja und Ljudmila Nikolajewna.
    In seiner Einstellung zu den 1937 ermordeten Menschen hatte sich nichts geändert. Er war nach wie vor über Stalins Grausamkeit entsetzt.
    Am Leben der Menschen ändert sich nichts, weil ein gewisser Strum ein Glückskind oder ein Pechvogel ist; die während der Kollektivierung Umgekommenen und im Jahr 1937 Erschossenen werden nicht wiederauferstehen, weil ein Strum Orden oder Medaillen verliehen bekommt oder nicht, weil er zu Malenkow eingeladen wird oder nicht auf der Gästeliste zu Schischakows Teerunden steht.
    All das war Viktor Pawlowitsch gut in Erinnerung und wohl bewusst. Und doch war in dieser Erinnerung und diesem Bewusstsein etwas Neues aufgetaucht. Entweder fehlte ihm die frühere Verwirrung, die frühere Sehnsucht nach der Freiheit des Wortes und der Presse, oder die Gedanken an die schuldlos zugrunde gerichteten Menschen setzten ihm nicht mehr so stark zu wie früher. Hing es vielleicht damit zusammen, dass er nun nicht mehr morgens, abends und nachts von ständiger Angst geplagt wurde?
    Viktor Pawlowitsch war klar, dass Kowtschenko, Dubenkow, Swetschin, Prassolow, Schischakow, Gurewitsch und viele andere nicht bessere Menschen geworden waren, weil sie ihre Einstellung ihm gegenüber geändert hatten. Gawronow, der Strum und seine Arbeit weiterhin mit fanatischem Starrsinn schmähte, war ehrlich. Das sagte Strum auch zu Nadja: »Weißt du, ich glaube, es ist immer noch besser, seine reaktionären Überzeugungen zum eigenen Schaden zu verteidigen, als sich aus karrieristischen Überlegungen für Herzen und Dobroljubow einzusetzen.«
    Seiner Tochter gegenüber war er stolz darauf, dass er sich und seine Gedanken unter Kontrolle hatte. Ihm würde nicht passieren, was so vielen passiert war: Der Erfolg hätte keinen Einfluss auf seine Ansichten, Sympathien und die Wahl seiner Freunde … Zu Unrecht hatte ihn Nadja einmal dieser Sünde verdächtigt.
    Er war doch ein gerissener alter Bursche. Alles hatte sich in seinem Leben verändert, er jedoch nicht. Er tauschte nicht den abgetragenen Anzug, die zerknitterten Krawatten und die Schuhe mit den schiefgelaufenen Absätzen aus. Wie früher trug er eine zerzauste, lange Mähne und erschien unrasiert zu den wichtigsten Sitzungen. Wie früher unterhielt er sich gern mit den Hausmeistern und Liftführern, verachtete hochmütig menschliche Schwächen und verurteilte den Kleinmut vieler Leute. Er tröstete sich stets mit dem Gedanken: »Ich habe nicht klein beigegeben, keinen Kniefall gemacht, ich habe durchgehalten und nicht bereut. Sie sind zu mir gekommen.«
    Oft sagte er zu seiner Frau: »Es laufen so viele Nullen herum. Die Menschen haben Angst, ihr Recht auf Ehrlichkeit zu verteidigen, sie geben zu leicht nach. Kompromisslertum und erbärmliches Verhalten allenthalben.«
    Sogar über Tschepyschin dachte er befremdet: »Hinter seinem übertriebenen Hang zum Tourismus und zur Bergsteigerei verbirgt sich die unbewusste Angst vor der Kompliziertheit des Lebens und hinter seinem Weggang aus dem Institut die bewusste Angst vor dem Hauptproblem unseres Daseins.«
    Natürlich hatte sich doch etwas in ihm verändert, er fühlte es, verstand aber nicht, was es war.
    54
    Als Strum die Arbeit im Institut wieder aufnahm, hatte er Sokolow nicht mehr im Labor angetroffen. Zwei Tage zuvor war Pjotr Lawrentjewitsch an einer Lungenentzündung erkrankt.
    Strum erfuhr, dass Sokolow vor seiner Erkrankung mit Schischakow eine neue Aufgabe vereinbart hatte; er sollte ein Labor leiten, das neu eingerichtet würde. Insgesamt ging es mit Pjotr Lawrentjewitsch bergauf.
    Selbst Markow, der Alleswisser, kannte nicht die wahren Gründe, die Sokolow veranlasst hatten, die Direktion um eine Versetzung aus Strums Labor zu bitten.
    Die Information über Sokolows Ausscheiden erregte in Strum weder Bitterkeit noch Bedauern; der Gedanke, ihm zu

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