Leben und Schicksal
hart werden, um eine Grausamkeit zu begehen. Ljudmila hatte schließlich das Leben mit ihm durchlebt, alle Schwierigkeiten mit ihm geteilt. Ihr Haar wurde schon grau. Und wie viel Kummer musste sie tragen. War wirklich nur Schlechtes in ihr? Wie viele Jahre war er stolz auf sie gewesen, hatte sich gefreut, dass sie so direkt, so wahrheitsliebend war. Ja, ja, er war im Begriff, eine Grausamkeit zu begehen.
Eines Morgens, als er sich auf den Weg zur Arbeit machen wollte, erinnerte er sich an den kürzlichen Besuch von Jewgenia Nikolajewna und dachte: »Wie gut, dass Genia nach Kuibyschew gefahren ist.«
Er schämte sich bei diesem Gedanken, und genau in diesem Augenblick sagte Ljudmila Nikolajewna: »Zu allen anderen aus unserer Familie, die einsitzen, ist jetzt noch Nikolai hinzugekommen. Wie gut, dass Genia nicht in Moskau ist.«
Er wollte ihr diese Worte schon ankreiden, hielt sich aber zurück und schwieg, denn seine Vorwürfe hätten allzu heuchlerisch geklungen.
»Tschepyschin hat angerufen, er wollte dich sprechen«, sagte Ljudmila Nikolajewna.
Er schaute auf die Uhr.
»Ich komme heute früher nach Hause und rufe ihn dann zurück. Übrigens, ich werde wahrscheinlich wieder in den Ural fliegen.«
»Für wie lange?«
»Nicht lange. Drei Tage oder so.«
Er hatte es eilig, ein großer Tag lag vor ihm.
Auch die Arbeit war groß, es ging um große Dinge von staatlicher Bedeutung, seine eigenen Gedanken hingegen waren klein, kläglich, winzig, als herrsche in seinem Kopf das Gesetz der umgekehrten Proportionalität.
Als Genia aus Moskau abgereist war, hatte sie ihre Schwester gebeten, zum Kusnezki Most zu gehen und Krymow zweihundert Rubel zu bringen.
»Ljudmila«, sagte er, »Genia hat dich doch gebeten, das Geld zu übergeben, ich glaube, du hast die Frist versäumt.«
Er sagte es nicht, weil er sich Sorgen um Krymow und Genia machte, sondern weil er dachte, dass Ljudmilas Nachlässigkeit Genias Rückkehr nach Moskau beschleunigen könnte. Von hier aus würde Genia dann Bittschriften und Briefe schreiben, Telefongespräche führen und Strums Wohnung zum Stützpunkt ihrer Bemühungen bei der Staatsanwaltschaft und im Gefängnis machen.
Strum wusste, dass solche Gedanken nicht nur schäbig, sondern auch gemein waren. Er schämte sich dieser Gedanken und sagte hastig: »Schreib an Genia. Lad sie in deinem und meinem Namen ein. Vielleicht muss sie nach Moskau, traut sich aber ohne Einladung nicht. Hörst du, Ljuda, schreib ihr sofort!«
Nach diesen Worten fühlte er sich besser, wusste aber, dass er sie nur ausgesprochen hatte, um sich selbst zu beruhigen … Seltsam … Als er in seinem Zimmer gesessen hatte, als man ihn hinausgeworfen hatte, als er den Hausverwalter und das Fräulein vom Gutscheinbüro gefürchtet hatte, da war sein Kopf mit Gedanken über das Leben, die Wahrheit, die Freiheit und Gott beschäftigt gewesen … Niemand hatte etwas von ihm gewollt, das Telefon hatte wochenlang geschwiegen, und die Bekannten, die ihm auf der Straße begegneten, hatten es vorgezogen, ihn nicht zu grüßen. Und jetzt, da Dutzende von Leuten auf ihn warteten, ihn anriefen und ihm schrieben, da die SIS-Limousine taktvoll unter seinem Fenster hupte, jetzt konnte er sich nicht von leeren Gedanken, kleinlichem Verdruss und sinnlosen Befürchtungen freimachen. Hier hatte er etwas Falsches gesagt, dort hatte er unvorsichtig gelächelt – winzige alltägliche Überlegungen begleiteten ihn.
Nach dem Anruf von Stalin hatte er für eine Weile das Gefühl gehabt, die Angst wäre vollkommen aus seinem Leben verschwunden. Aber es zeigte sich, dass sie immer noch da war, sie hatte sich nur verändert, aus der Dienstbotenangst war eine Herrenangst geworden, sie fuhr im Wagen mit, benutzte die Drehtür im Kreml, war geblieben.
Das, was er früher für unmöglich gehalten hatte – eine sportlich-eifersüchtige Einstellung den Lösungen und Leistungen anderer Wissenschaftler gegenüber –, war für ihn eine natürliche Sache geworden. Er sorgte sich, dass man ihn überholen, übertölpeln könne.
Er hatte keine große Lust, mit Tschepyschin zu reden, glaubte, nicht genug Kraft für dieses schwere, lange Gespräch zu haben. Man stellte sich die Abhängigkeit der Wissenschaft vom Staat immer noch viel zu simpel vor. Er war doch wirklich frei. Seine theoretischen Gedankengebäude erschienen heute keinem mehr als talmudischer Unsinn. Niemand griff sie an. Der Staat brauchte die physikalische Theorie. Auch Schischakow und
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