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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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berechnet.
    »Ich hab heute Geburtstag«, sagte er zu Abartschuk. »Komm und feiere mit uns. Es gibt Wodka.«
    Entsetzlich! Dutzende von Männern hatten die nächtliche Abrechnung gehört, hatten den Mann gesehen, der an Rubins Pritsche getreten war.
    Was hätte es gekostet, aufzustehen und in der Baracke Alarm zu schlagen? Ein paar hundert Männer hätten den Mörder mit vereinten Kräften binnen zwei Minuten überwältigen und den Kameraden retten können. Aber niemand hob den Kopf, niemand schrie. Ein Mensch wurde wie ein Schaf abgeschlachtet. Die Männer auf den Pritschen stellten sich schlafend, hatten die wattierten Jacken über den Kopf gezogen und bemühten sich, nicht zu husten und nicht zu hören, wie der Sterbende im Todeskampf um sich schlug.
    Diese schändliche Niedertracht, diese lammfromme Ergebenheit!
    Er hatte ja auch nicht geschlafen, hatte auch geschwiegen und den Kopf unter die wattierte Jacke gesteckt … Er wusste nur allzu gut, dass diese Ergebenheit Gründe hatte, dass sie schlimmer Erfahrung und dem Wissen um die Lagergesetze entsprang. Hätten sie dem Mörder in der Nacht Einhalt geboten, wäre der Mann mit dem Messer doch stärker als ein Mann ohne Messer gewesen. Die Stärke der Baracke lässt sich nur für einen Augenblick bündeln, aber ein Messer ist immer ein Messer.
    Abartschuk dachte an das bevorstehende Verhör. Der Chef des Lagergeheimdienstes musste ja Aussagen einholen – er schlief nachts nicht in der Baracke, er wusch sich nicht im Vorraum, im Rücken einen Schlag gewärtig, er ging nicht durch die Grubenstollen, er betrat nicht die Barackenlatrine, wo einem plötzlich ein Sack über den Kopf gestülpt werden konnte.
    Ja, ja, er hatte in der Nacht gesehen, wie ein Mann zu dem schlafenden Rubin gegangen war. Er hatte gehört, wie Rubin geröchelt und sterbend mit Armen und Beinen auf der Pritsche um sich geschlagen hatte.
    Hauptmann Mischanin, der Chef des Lagergeheimdienstes, ließ Abartschuk zu sich kommen, schloss die Tür und sagte: »Setzen Sie sich.«
    Er stellte die ersten Fragen, auf die er von den politischen Gefangenen stets rasche und genaue Antworten erhielt. Dann hob er die müden Augen und schaute Abartschuk sekundenlang an. Er wusste schon, dass der altgediente Gefangene aus Angst vor der unvermeidlichen Abrechnung in der Baracke niemals sagen würde, wie der Nagel in die Hände des Mörders geraten war.
    Abartschuk sah ihn ebenfalls an, betrachtete das junge Gesicht des Hauptmanns, sein Haar, seine Augenbrauen, die Sommersprossen auf seiner Nase, und dachte dabei, Mischanin könnte höchstens zwei oder drei Jahre älter sein als Tolja.
    Mischanin stellte jetzt die Frage, derentwegen er Abartschuk zu sich befohlen hatte und die schon in drei vorangegangenen Verhören unbeantwortet geblieben war.
    Abartschuk schwieg beharrlich.
    »Sind Sie taub?«
    Wie sehr wünschte er, dass der »Chef« sagen würde – wenn auch nicht ohne Hintergedanken, aber sich damit zumindest an das bei gerichtlichen Untersuchungen übliche Verfahren haltend: »Hör zu, Genosse Abartschuk, du bist doch Kommunist. Heute sitzt du im Lager, aber morgen werden wir beide, du und ich, wieder in derselben Organisation unsere Mitgliedsbeiträge zahlen. Hilf mir wie ein Genosse dem anderen, wie ein Parteimitglied.«
    Stattdessen sagte Hauptmann Mischanin: »Sind Sie eingeschlafen? Dann werde ich Sie gleich wecken.« Aber es war nicht nötig, Abartschuk zu wecken.
    Mit heiserer Stimme antwortete er: »Die Nägel hat Barchatow aus dem Magazin gestohlen. Vor kurzem hat er sich auch drei Feilen geholt. Den Mord hat meiner Ansicht nach Nikolai Ugarow begangen. Ich weiß, dass Barchatow ihm den Nagel zugesteckt hat. Ugarow hat Rubin einige Male gedroht, ihn umzubringen. Und gestern hat er es ihm geschworen. Weil Rubin seine Krankmeldung nicht unterschreiben wollte.«
    Er nahm die Zigarette, die der Hauptmann ihm anbot, und fügte hinzu: »Ich halte es für meine Pflicht als Parteimitglied, Sie davon in Kenntnis zu setzen, Genosse Bevollmächtigter. Genosse Rubin war ein altes Parteimitglied.«
    Hauptmann Mischanin gab Abartschuk Feuer und begann zu schreiben, schnell, ohne zu sprechen. Dann sagte er mit sanfter Stimme: »Sie sollten wissen, Häftling, dass es Ihnen nicht zusteht, von Parteimitgliedschaft zu sprechen. Die Anrede Genosse ist Ihnen untersagt. Für Sie bin ich Bürger Natschalnik.«
    »Verzeihung, Bürger Natschalnik.«
    »Warten Sie ein paar Tage, bis ich die Untersuchung abgeschlossen

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