Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
Verlangen, Rubin ins Gesicht zu schlagen.
    Er sprang auf und setzte seine Wanderung durch die Baracke fort.
    Natürlich war auch ihm die Maismehljauche zuwider. Seit wie vielen Tagen schon versuchte er, sich vorzustellen, was es am Tag der Oktoberrevolution zu essen gegeben hätte: Gemüseragout? Makkaroni nach Marineart? Einen Auflauf?
    Viel hing von einem Wort des Chefs des Lagergeheimdienstes ab, und die Wege, die zu den Höhen des Lebens – zum Verwalter der Bäder, zum Brotschneider – führten, waren geheimnisvoll, lagen im Nebel. Er könnte zum Beispiel im Labor arbeiten, im weißen Kittel, unter einer Leiterin, die eine Freie war, und wo er nicht den Kriminellen ausgeliefert wäre. Oder in der Planungsabteilung. Oder als Grubenverwalter … Trotzdem war Rubin im Unrecht, Rubin wollte herabwürdigen und untergraben, was stark war im Menschen, er spürte in der Seele auf, was sich dort, im Unterbewusstsein, verbarg wie ein Dieb. Rubin war ein Saboteur.
    Sein ganzes Leben war Abartschuk den Opportunisten unversöhnlich entgegengetreten, hatte er die Doppelzüngler und die Lauen gehasst. Seine seelische Stärke, sein Glaube standen und fielen mit dem Glauben an die Gerechtigkeit der Justiz. Von seiner Frau hatte er sich getrennt, weil er an ihr zweifelte, weil er ihr nicht zutraute, dass sie ihren gemeinsamen Sohn zu einem unerschütterlichen Kämpfer erziehen würde. Dem eigenen Sohn hatte er verwehrt, seinen Namen zu tragen. Die Wankelmütigen waren von ihm angeprangert worden. Nörgler und Kleingläubige traf seine Verachtung. Im Kusbass pflegte er Strafgefangene, die als ITR, als ingenieurtechnische Mitarbeiter, eingesetzt waren und sich nach ihren Familien in Moskau zurücksehnten, der Justiz zu überantworten. Vierzig gesellschaftlich verdächtige Demente, Arbeiter, die von der Baustelle in ihre Dörfer geflohen waren, hatte er verurteilt. Von seinem kleinbürgerlichen Vater hatte er sich losgesagt.
    Welche Wonne war es, unnachgiebig zu sein. Und wenn er über andere zu Gericht saß, fühlte er die eigene innere Stärke, seinen Idealismus und seine Reinheit bestätigt. Daraus schöpfte er seinen Optimismus und seinen Glauben. Er hatte sich nicht ein einziges Mal dem Ruf der Partei entzogen, hatte freiwillig auf sein Höchstgehalt als hauptamtlicher Parteifunktionär verzichtet. Und auch in diesen Opfern fand er seine Bestätigung.
    Man sah ihn nie anders als in Soldatenbluse und hohen Stiefeln – im Dienst, bei den Sitzungen des Kollegiums des Volkskommissariats, im Theater; selbst auf der Strandpromenade in Jalta, wohin ihn die Partei zur Kur geschickt hatte. Er wollte in allem Stalin gleichen.
    Als er das Recht verloren hatte, über andere zu Gericht zu sitzen, hatte er sich selbst verloren. Und Rubin spürte das. Es verging kaum ein Tag, da er nicht auf die Schwächen, die Feigheit, die armseligen Begierden anspielte, die sich heimtückisch in der Seele des Lagermenschen einnisteten.
    Erst vor zwei Tagen musste Abartschuk sich die Bemerkung gefallen lassen: »Barchatow steckt den Ganoven Werkzeug aus dem Magazin zu, aber unser Robespierre schweigt. Die Küken wollen auch leben.«
    Als Abartschuk, der gerade einen anderen verurteilen wollte, fühlte, dass gegen ihn selbst Anklage erhoben wurde, da begann er zu schwanken; Verzweiflung ergriff ihn, er verlor seinen inneren Halt.
    Abartschuk blieb vor einem Pritschenkreuz stehen, dort unterhielt sich gerade der alte Fürst Dolgoruki mit dem jungen Professor Stepanow, der an einem Wirtschaftsinstitut gelehrt hatte. Stepanow benahm sich im Lager äußerst arrogant. Er weigerte sich aufzustehen, wenn die Lagerleitung die Baracke betrat, und äußerte offen antisowjetische Ansichten. Im Gegensatz zur großen Masse der Politischen rühmte er sich, für eine wirklich begangene Handlung verurteilt worden zu sein. Er hatte eine Schrift mit dem Titel »Der Staat Lenins und Stalins« verfasst und seinen Studenten zum Lesen gegeben. Der dritte oder vierte Leser hatte ihn angezeigt.
    Dolgoruki war aus Schweden in die Sowjetunion zurückgekehrt. Zuvor hatte er viele Jahre in Paris gelebt und sich nach seiner Heimat gesehnt. Eine Woche nach seiner Ankunft wurde er verhaftet. Im Lager betete er, war mit Angehörigen religiöser Sekten befreundet und schrieb mystische Gedichte.
    Auch jetzt rezitierte er vor Stepanow Verse.
    Mit der Schulter an das Bretterkreuz zwischen der unteren und oberen Pritsche gelehnt, lauschte Abartschuk dem Vortrag. Dolgoruki sprach mit halb

Weitere Kostenlose Bücher