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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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geschlossenen Augen und zitternden, aufgesprungenen Lippen. Seine schwache Stimme klang ebenfalls brüchig und zitternd:
    »Hab ich nicht selbst die Stunde meiner Geburt,
    Jahr und Ort, Reich und Volk gewählt,
    um durch alle Qualen, alle Taufen
    des Gewissens, des Feuers und des Wassers zu gehn?
    Ich, in den gähnenden Schlund des apokalyptischen Tiers gestürzt,
    tiefer gefallen, als ein Mensch je fiel,
    in Verwesung und Gestank – ich glaube!
    Ich glaube an die Gerechtigkeit der höchsten Macht,
    die die ewigen Elemente entfesselt.
    Und aus dem tiefsten Schoß des eingeäscherten Russland rufe ich:
    Du hast recht geurteilt!
    Denn die feste Masse des Seins
    in ihrer ganzen Dichte
    muss zu diamantener Weißglut erhitzt werden.
    Und fehlte es im Schmelzofen an Scheiten –
    o Herr, hier ist mein Leib!«
    Das Gedicht war zu Ende, Dolgoruki aber saß noch eine Weile mit halb geschlossenen Augen da, und seine Lippen bewegten sich lautlos weiter.
    »Schwachsinn«, meinte Stepanow, »Dekadenz.« Dolgoruki wies mit einer weiten Bewegung seiner bleichen, blutleeren Hand um sich.
    »Hier sehen Sie, wohin Tschernyschewski und Herzen den russischen Menschen geführt haben. Erinnern Sie sich daran, was Tschaadajew in seinem dritten philosophischen Brief geschrieben hat?«
    Stepanow sagte in schulmeisterlichem Ton: »Mit Ihrem mystischen Obskurantismus sind Sie mir ebenso zuwider wie die Organisatoren dieses Lagers. Sie vergessen beide den dritten und natürlichsten Weg Russlands: den Weg der Demokratie, der Freiheit.«
    Abartschuk und Stepanow waren sich mehr als einmal in die Haare geraten. Doch diesmal hatte er keine Lust, sich in den Streit einzumischen, Stepanow als Feind und »inneren Emigranten« zu brandmarken. Er ging weiter, zur Ecke der Baptisten, und hörte zu, wie sie ihre Gebete murmelten.
    In diesem Augenblick gellte die Stimme des Barackenältesten Sarokow: »Alles aufstehen!«
    Alle sprangen von ihren Plätzen – in der Tür erschien die Lagerleitung. Abartschuk schielte zur Seite, sein Blick fiel auf das lange, bleiche Gesicht des strammstehenden Dolgoruki. Die Lippen des»Todeskandidaten« 24 bewegten sich flüsternd. Vielleicht wiederholte er seine Verse. Stepanow neben ihm war sitzen geblieben – wie immer verboten ihm seine anarchistischen Prinzipien, sich den Regeln der Lagerordnung, selbst den vernünftigen, zu unterwerfen.
    Ein Raunen lief durch die Reihe der Häftlinge: »Es wird gefilzt!« Aber es gab keine Durchsuchung. Zwei junge Begleitsoldaten in rotblauen Militärkappen schritten die Gänge zwischen den Pritschen entlang und musterten die Insassen. Bei Stepanow blieben sie stehen, und einer der Soldaten sagte: »Du sitzt, Professor? Hast wohl Angst, dir den Hintern zu erkälten?«
    Stepanow wandte ihm sein plattnasiges, breites Gesicht zu und schrie mit schriller Papageienstimme den auswendig gelernten Satz: »BürgerNatschalnik, 25 ich bitte Sie, mich mit ›Sie‹ anzureden – ich bin ein politischer Häftling!«
    In der folgenden Nacht wurde Rubin umgebracht. Der Mörder hatte seinem schlafenden Opfer einen großen Nagel ans Ohr gesetzt und mit einem gewaltigen Schlag ins Gehirn getrieben. Fünf Insassen, darunter Abartschuk, wurden zum Chef des Lagergeheimdienstes befohlen, den offenbar vor allem die Herkunft des Nagels interessierte. Nägel wie dieser waren erst kürzlich eingelagert und von der Produktion noch nicht angefordert worden.
    Beim Waschen stellte sich Barchatow neben Abartschuk an eine der Holzrinnen. Während er ihm sein nasses Gesicht zuwandte und sich die Wassertropfen von den Lippen leckte, sagte Barchatow, ohne die Stimme zu erheben: »Vergiss nicht, du Aas, falls es dir einfallen sollte, mich beim ›Chef‹ zu verpfeifen – mir wird nichts passieren, aber dich werde ich noch heute Nacht so zurichten, dass das ganze Lager zittert …«
    Er trocknete sich ab, und sein ausdrucksloser, wässriger Blick suchte Arbatschuks Augen. Nachdem er in ihnen gelesen hatte, was er lesen wollte, drückte er Abartschuk die Hand.
    In der Kantine schob Abartschuk seinen Napf mit der Maismehlsuppe Neumolimow zu.
    Neumolimows Lippen zitterten.
    »So eine Bestie! Unseren Abrascha! Was für ein Mensch!«, und er zog den Napf zu sich herüber.
    Abartschuk verließ schweigend den Tisch.
    Am Ausgang der Kantine wich die Menge vor einem Eintretenden zurück. Es war Perekrest. Er musste sich bücken, als er über die Schwelle schritt, die Deckenhöhe im Lager war nicht für seine Statur

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