Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
Becher stand neben ihm … Hätte ich doch wenigstens seinen letzten Wunsch erfüllt!«
    »Siehst du, auch der Tote mischt sich in unser Gespräch ein.«
    »Versteht sich«, sagte Magar, und Abartschuk hörte den vertrauten Tonfall, der ihn stets so bewegte. So pflegte Magar ein ernstes Gespräch einzuleiten. »Versteht sich – wir sprechen von ihm und meinen doch im Grunde uns.«
    »Nein, nein!« Abartschuk ergriff Magars heiße Hand, drückte sie heftig, legte die Arme um Magars Schultern, und sein ganzer Körper wurde von lautlosem, ersticktem Schluchzen geschüttelt.
    »Ich danke dir«, stammelte er, »ich danke dir … Danke, Genosse, mein Freund …«
    Sie schwiegen bewegt. Ihr keuchender Atem vermischte sich, und Abartschuk hatte das Gefühl, dass nicht nur ihr Atem eins wurde.
    Magar sprach als Erster.
    »Hör mich an«, sagte er, »hör mich an, Freund, es ist das letzte Mal, dass ich dich so nenne.«
    »Unsinn, du wirst weiterleben!«
    Magar richtete sich im Bett auf.
    »Ich schrecke davor zurück wie vor der Folter, aber ich muss es sagen. Auch du hör gut zu«, wandte er sich an den Toten. »Es geht dich an und deine Nastja. Dies ist meine letzte Pflicht als Revolutionär, und ich werde sie erfüllen! Du, Genosse Abartschuk, bist ein außergewöhnlicher Mensch. So wie die Zeit, in der wir uns begegnet sind, eine außergewöhnliche Zeit war – ich glaube, unsere beste. Und jetzt sage ich dir – wir haben uns geirrt. Unser Irrtum, siehst du, hat uns hierhergeführt. Und hier müssen wir den Toten beide, du und ich, um Verzeihung bitten … Gib mir was zu rauchen. Aber was nützt schon die Reue? Das hier kann keine Reue wiedergutmachen. Das wollte ich dir sagen. Erstens. Und zweitens: Wir haben nicht verstanden, was Freiheit ist. Wir haben sie zertreten. Auch Marx wollte nichts von ihr wissen, aber sie ist das Fundament, das allem Sinn gibt. Ohne Freiheit gibt es keine proletarische Revolution. Das also zweitens. Und jetzt hör zu, drittens: Wir sagen, wir gehen durch Lager, durch die Taiga, aber unser Glaube ist stärker als alles. Doch was wir meinen, ist nicht Stärke, das ist Schwäche, Selbsterhaltungstrieb. Draußen, jenseits des Stacheldrahts, befiehlt der Selbsterhaltungstrieb dem Menschen, sich zu ändern, wenn er nicht zugrunde gehen, nicht ins Lager kommen will – und so haben sich die Kommunisten ein Götzenbild gemacht, haben Achselstücke auf ihre Uniformen genäht, predigen den Nationalismus, und wenn es sein muss, werden sie bis zum Geist der SchwarzenHundertschaft 27 herabsinken … Hier aber, im Lager, befiehlt ihnen derselbe Instinkt, sich nicht zu ändern – wenn du dich nicht selbst ins Leichentuch hüllen willst, darfst du dich in Lagerjahrzehnten nicht ändern, das ist die Rettung … Zwei Seiten ein und derselben Medaille …«
    »Hör auf!«, schrie Abartschuk, sprang auf und hielt Magar seine geballte Faust vors Gesicht. »Sie haben dich kaputt gemacht! Du hast kapituliert! Was du sagst, ist Lüge, Fieberwahn.«
    »Schön wäre es, aber ich bin ganz klar. Ich rufe dich ja wieder! Wie vor zwanzig Jahren! Wenn wir nicht als Revolutionäre leben können, lass uns lieber sterben, so zu leben ist schlimmer.«
    »Aus, genug!«
    »Verzeih mir. Ich verstehe. Ich bin wie eine alte Hetäre, die um ihre verlorene Tugend weint. Doch ich sage dir: Denk dran! Verzeih mir, lieber Freund …«
    »Verzeihen? Besser wär’s, ich, du, wir lägen nun so da wie dieser Tote und hätten unser Wiedersehen nicht mehr erlebt …«
    Schon in der Tür, sagte Abartschuk: »Ich komme wieder … Werde dir den Kopf schon zurechtrücken … Ab nun bin ich dein Lehrer.«
    Am nächsten Morgen begegnete Abartschuk auf dem Lagerplatz dem Sanitäter Trjufelew. Er zog einen Schlitten mit einer fest angebundenen Milchkanne hinter sich her. Es war merkwürdig, jenseits des Polarkreises Schweiß auf dem Gesicht eines Menschen zu sehen.
    »Dein Freund braucht keine Milch mehr«, sagte er. »Hat sich heute Nacht erhängt.«
    Es ist immer angenehm, einen anderen mit einer Neuigkeit zu überraschen, und der Sanitäter betrachtete Abartschuk mit gutmütigem Triumph.
    »Hat er einen Brief hinterlassen?«, fragte Abartschuk und zog die eisige Luft ein. Er war sicher, dass ihm Magar ein paar Zeilen zurückgelassen hatte: Das gestern war eine zufällige Anwandlung gewesen.
    »Wozu ein Brief? Was immer du schreibst, es kommt zum ›Chef‹.«
    Diese Nacht war die schwerste in Abartschuks Leben. Er lag reglos da, die Zähne

Weitere Kostenlose Bücher