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Lebendig und begraben

Lebendig und begraben

Titel: Lebendig und begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finder Joseph
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reiste durch ganz Europa und landete schließlich in der Schweiz. Sein gesamtes Vermögen war eingefroren, und unsere Familie fiel unversehens aus einem verdammt hohen Lebensstandard in die Armut. Der Verlust an Sicherheit in Verbindung mit der Demütigung war traumatisch für meine Mutter und uns alle. Aber ich habe mich immer gefragt, ob sie andererseits nicht auch erleichtert war.
    Erleichtert, aus der goldenen Seifenblase heraus zu sein.Befreit von der Pflicht, auf Knopfdruck die Verpflichtungen einer Gastgeberin zu übernehmen. Erlöst von dem Narzissmus meines Vaters, der ihr die Luft zum Atmen geraubt hatte.
    Sie fand Arbeit als persönliche Assistentin von Marshall Marcus, was ihr und uns allen das Leben rettete. Ich glaube, es hätte erniedrigend sein können, den Mann zuerst als Gast zum Abendessen zu haben und wenig später seine Termine zu verwalten, aber Marshall bekam es irgendwie hin, dass es sich nicht so
anfühlte
. Er tat auch nicht so, als handelte es sich dabei um Barmherzigkeit, obwohl ich vermute, dass es so gewesen ist. Stattdessen, erklärte meine Mutter mir einmal, gab er sich so, als würde er einen Familienbetrieb führen und als gehörte sie zur Familie.
    Allmählich entwickelte sie sich weiter und bekam eine Anstellung als Lehrerin an einer örtlichen Grundschule. Mittlerweile war sie zwar offiziell im Ruhestand, aber sie war weiterhin als ehrenamtliche Schulbibliothekarin tätig. Außerdem kümmerte sie sich um die alten Damen in ihrer Wohnanlage. Du brauchst jemanden, der dich zu deinem Termin beim Augenarzt fährt? Frag Frankie. Bringt dich das Kleingedruckte auf dem Beipackzettel deiner verschreibungspflichtigen Medikamente durcheinander? Frag Frankie. Sie wusste alles oder zumindest, wie man es herausfinden konnte. Ich weiß nicht, warum sie so tat, als wäre sie im Ruhestand, obwohl sie mehr zu tun hatte als jeder Assistenzarzt.
    Außerdem sprach meine Mutter aus, was sie dachte, seit sie dem goldenen Käfig entronnen war, und ließ sich von niemandem einen Bären aufbinden. Meine sanfte Mutter hatte sich zu einer sehr direkten, vitalen Frau fortgeschrittenen Alters entwickelt, die kein Blatt vor den Mund nahm.
    Es war herrlich.
    Sie lebte in der unteren Hälfte eines Stadthauses in einer Altensiedlung in Newton mit Blick auf das Staubecken. Diese Stadthäuser, die alle an gewundenen Wegen und Landschaftsgärten lagen, waren identisch. Ich konnte sie nie auseinanderhalten und verlief mich jedes Mal. Es war wie dieses Dorf in einer alten Fernsehserie, nur dass es hier Bingo gab.
    Die Tür sprang auf, kaum dass ich den Summer gedrückt hatte. Meine Mutter trug eine türkisfarbene Hose und ein weißes Top unter einem wallenden, gestrickten Kaftan in allen Regenbogenfarben sowie eine Kette mit großen, jadegrünen Glasperlen. Sie war nur ganz leicht geschminkt, aber sie brauchte nie viel. Auch jetzt noch, in ihren Sechzigern, war sie eine bildhübsche Frau mit saphirblauen Augen, dunklen Wimpern und einem milchigen Teint, den sie eigentlich gar nicht hätte haben dürfen, weil sie so viel rauchte. Als sie meinem Vater zum ersten Mal begegnete, muss sie umwerfend ausgesehen haben.
    Sie hielt wie immer eine Zigarette. Um sie herum wirbelte eine Rauchwolke. Aber noch bevor sie hallo sagen konnte, sprang hinter ihr ein großes, schwarzes Projektil hervor und schoss auf mich zu wie ein Marschflugkörper.
    Ich versuche einen Schritt zur Seite zu machen, aber der Hund war schon über mir, fletschte seine blitzenden Zähne, knurrte und bellte in tollwütiger Raserei und zerkratzte mit seinen scharfen Klauen durch den Pullover hindurch meine Brust und meine Arme. Ich versuchte, ihn dazu zu bringen, von mir abzulassen, aber dafür war er viel zu wendig, und meine Bemühungen machten diesen höllischen Jagdhund nur noch wütender.
    »Aus, Lilly«, sagte meine Mutter in einem resoluten Tonfall. Ihre Stimme war durch jahrzehntelanges Rauchen tiefer und heiserer geworden. Das Tier ließ sich sofort auf den gekachelten Boden des Flurs fallen und legte seinen Kopf gehorsamauf seine Pfoten. Aber es starrte mich immer noch leise knurrend und heimtückisch an.
    »Ich bin froh, dass sie dir gehorcht«, sagte ich. »Ich war kurz davor, ein Auge zu verlieren.«
    »Ach, sie ist doch ein ganz liebes Hündchen. Nicht wahr, Lilly-Willie? Komm her.« Meine Mutter streckte einen Arm aus, um mich zu umarmen. Den anderen Arm streckte sie nach hinten und hielt dabei ihre Zigarette anmutig zwischen zwei langen,

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