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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Pollan
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Verachtung für tierisches Protein. Dr. Kellogg, ein Siebenten-Tags-Adventist mit starker Ähnlichkeit zu Colonel Sanders – dem Gründer von Kentucky Fried Chicken -, war fest davon überzeugt, es würde sowohl der Masturbation als auch der unkontrollierten Vermehrung gesundheitsschädlicher Bakterien im Dickdarm Vorschub leisten. In diesem ersten goldenen Zeitalter der amerikanischen Ernährungsmarotten spielte das Protein so ziemlich die gleiche Rolle, die das Fett im nächsten spielen würde. In Kelloggs Sanatorium in Battle Creek zahlten die Patienten (zu denen John D. Rockefeller und Theodore Roosevelt gehörten) ein kleines Vermögen, um sich zum Beispiel den folgenden »wissenschaftlichen« Anwendungen zu unterziehen: stündliche Joghurt-Einläufe (die den Schaden wiedergutmachen sollten, den das Protein angeblich im Darm angerichtet habe); elektrische Stimulation und »massive Vibration« des Bauchbereichs; Diäten, die aus nichts als Weintrauben bestanden (zehn bis vierzehn Pfund pro Tag); und bei jeder Mahlzeit das Ausführen von Fletchers Spezialmethode, die darin bestand, jeden Nahrungsbissen an die hundert Mal zu kauen. (Oft zur aufrüttelnden Begleitung spezieller Kau-Lieder.) Das beruhte auf der Theorie, gründliches Kauen würde die Proteinaufnahme verringern (das scheint sicher) und so »das subjektive und das objektive Wohlbefinden verbessern«. Horace Fletcher (alias »der große Mastikator«) hatte dafür keinerlei wissenschaftliche Belege, aber seine ungewöhnliche Fitness – mit fünfzig lief er die 898 Stufen des Washington Monument herauf und herunter, ohne außer Atem zu kommen, obwohl er täglich nur 45 gut gekaute Gramm Protein zu sich nahm – war der einzige Beweis, den seine Anhänger brauchten. 10 Die Brüder Henry und William James wurden beide zu begeisterten »Kauern«. 11
    Was auch immer die biologische Wirkung all dieser Ernährungsstrapazen gewesen sein mag, sie hatten den Effekt, das Essen aus dem gesellschaftlichen Leben und den Genuss aus dem Essen zu verbannen; zwanghafte Kaubewegungen (und noch weniger stündliche Pausen für Einläufe) führen nicht gerade zu Tafelfreuden. Das »Fletchern« wird dem Essen außerdem den letzten Funken Geschmack geraubt haben, lange bevor die hundert Kaubewegungen des Kiefers abgezählt waren. Kellogg selbst äußerte seine Feindseligkeit gegenüber den Freuden des Essens ganz offen: »Der Abstieg einer Nation fängt damit an, dass das Essen zu gut schmeckt.«
    Wenn dem so wäre, hätte Amerika kaum Grund zur Besorgnis.
    Dass die Amerikaner schon früh von verschiedenen Formen einer verwissenschaftlichten Nahrungsaufnahme angezogen waren, könnte auch Ausdruck des Unbehagens sein, den der Ernährungsstil anderer Völker ihnen bereitete: die unheimlichen, unordentlichen, geruchsintensiven und verquasten Ernährungsgewohnheiten der Einwanderer. 12 Wie ein Volk sich ernährt, ist eine seiner eindrucksvollsten Möglichkeiten, seine kulturelle Identität zu äußern und zu bewahren; genau das ist in einer Gesellschaft, die sich dem Ideal der »Amerikanisierung« verschrieben hat, nicht erwünscht. Die Verwissenschaftlichung von Nahrungsentscheidungen bedeutet, ihnen ihre ethnische Substanz und Geschichte zu nehmen; zumindest theoretisch bietet der Nutritionismus eine neutrale, modernistische, vorwärtsgerichtete und potenziell vereinheitlichende Antwort auf die Frage, was es bedeuten könnte, wie ein Amerikaner zu essen. Und er erlaubt, die Ess-Entscheidungen anderer Leute moralisch zu beurteilen, ohne dass es so aussieht. Insofern gleicht der Nährstoffwahn dem Standardrasen vor amerikanischen Häusern, der eine unwiderlegliche, aber langweilige Methode darstellt, Unterschiede einzuebnen und die Landschaft zu amerikanisieren. In beiden Fällen entsteht die Einheit natürlich zu Lasten der ästhetischen Diversität und des sinnlichen Vergnügens. Und genau darum könnte es gegangen sein.

8
     
    Fettarmer Pudding beweist es
     
    Was immer uns an Genuss entgehen mag, gewinnen wir an Gesundheit – das hat der Nutritionismus zumindest immer versprochen. Unterm Strich jedoch lässt sich kaum aufrechterhalten, dass das verwissenschaftlichte Essen uns gesünder gemacht hat. Wie erwähnt, fiel die Fettarm-Kampagne mit einer drastischen Zunahme der Fettleibigkeits- und Diabetesfälle in Amerika zusammen. Diese unselige Auswirkung könnte man uns Essern zur Last legen, denn wir sind dem offiziellen Rat, mehr fettarme Lebensmittel zu essen, ein bisschen

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