Lebens-Mittel
Gemüse – Verbindungen wie Beta-Carotine, Lycopene, Vitamin E usw. – wären der unbekannte Faktor. In der Theorie ist das plausibel: Die genannten Moleküle (die von Pflanzen produziert werden, um sich vor den hoch reaktiven Sauerstoffformen zu schützen, die sie bei der Fotosynthese produzieren) saugen die freien Radikale in unserem Körper auf, die die DNS schädigen und ein Krebsgeschehen in Gang setzen können. Zumindest scheint es im Reagenzglas so zu funktionieren. Aber sobald wir diese entscheidenden Moleküle aus dem Kontext des ganzen Lebensmittels herauslösen, in dem sie sich befinden – indem wir sie zum Beispiel in ein Nahrungsergänzungsmittel stecken – scheinen sie nicht mehr zu wirken. In Pillenform geschlucktes Beta-Carotin etwa kann, wie eine Studie nahelegt, bei manchen Menschen sogar das Risiko für bestimmte Krebsarten erhöhen.
Was geschieht hier? Wir wissen es nicht. Es könnte an den Launen der menschlichen Verdauung liegen. Vielleicht schützt der Ballaststoff (oder eine andere Komponente) in der Karotte das Antioxidanzien-Molekül zu Beginn des Verdauungsprozesses davor, von der Magensäure zerstört zu werden. Vielleicht haben wir das falsche Antioxidanz isoliert. Beta-Carotin ist nur eins von einer ganzen Schar von Carotinen, die sich in gängigen Gemüsen finden; vielleicht haben wir uns auf das falsche konzentriert. Oder das Beta-Carotin wirkt nur dann als Antioxidanz, wenn es in der Pflanze mit einem anderen Stoff oder Prozess verbunden ist; unter anderen Umständen verhält es sich vielleicht als Pro-Oxidanz.
Ein Blick auf die chemische Zusammensetzung irgendeiner gängigen Nahrungspflanze macht deutlich, wie komplex sie ist. Schon nur die identifizierten Antioxidanzien in einem Blättchen Gartenthymian ergeben folgende Liste:
Alanin, ätherisches Anetholöl, Apigenin, Ascorbinsäure, Beta-Carotin, Camphen, Carvacrol, Chlorogensäure, Chrysoeriol, Eriodictyol, Eugenol, Ferulsäure, Gallsäure, Gamma-Terpinen, Isichlorogensäure, Isoeugenol, Isothymonin, Kaempferol, Kaffeesäure, Labiatsäure, Laurinsäure, Linalylacetat, Luteolin, Methionin, Myrcen, Myristicinsäure, Naringenin, Rosmarinsäure, Selen, Tannin, Thymol, Tryptophan, Ursolsäure, Vanillinsäure, 4-Terpinol.
Das alles verleiben Sie sich ein, wenn Sie etwas essen, das mit Thymian aromatisiert wurde. Einige dieser chemischen Stoffe werden von Ihrer Verdauung aufgespalten, andere stellen mit Ihrem Körper bislang unerforschte Dinge an: Sie fördern oder verhindern die Funktion bestimmter Gene oder fangen ein freies Radikal ab, bevor es einen DNS-Strang im Zellinneren schädigt. Natürlich wäre es herrlich zu wissen, wie all das funktioniert; aber bis es so weit ist, können wir den Thymian in dem Wissen genießen, dass er wahrscheinlich nicht schadet (weil die Leute ihn schon lange essen), und selbst wenn er gar nichts bewirken sollte, mögen wir seinen Geschmack.
Denken wir auch an Folgendes: Das, was die reduktive Wissenschaft so gut wahrnehmen kann, dass sie es isolieren und studieren kann, ändert sich ständig; wir wiederum tendieren zu der Annahme, das, was wir sehen können , wäre das, was wir suchen. Die breite Aufmerksamkeit, die seit den Fünfzigerjahren dem Cholesterin zuteilwurde, ist zu einem großen Teil darauf zurückzuführen, dass es lange Zeit der einzige mit Herzkrankheiten in Zusammenhang gebrachte Faktor war, den wir messen konnten. (Das wird manchmal als Parkplatz-Wissenschaft bezeichnet, nach dem legendären Kerl, der seine Schlüssel auf einem Parkplatz verlor und sie unter der Straßenlaterne suchte – nicht weil er sie dort verloren hatte, sondern weil er sie dort am besten hätte sehen können.) Als wir lernten, die verschiedenen Cholesterinarten, dann die Triglyceride und dann das C-reaktive Protein zu messen, wurden sie zu wichtigen Studienobjekten. Ganz sicher wird es weitere Komponenten geben, die bislang nur noch nicht identifiziert wurden. Es ist die alte Geschichte: Als Prout und Liebig die Makronährstoffe nachgewiesen hatten, dachten die Wissenschaftler, jetzt würden sie verstehen, was Lebensmittel sind und was der Körper von ihnen braucht. Als ein paar Jahrzehnte später die Vitamine isoliert wurden, dachten die Wissenschaftler, okay, jetzt verstehen wir wirklich, was Lebensmittel sind und was der Körper braucht, um gesund zu sein; heute sind es Polyphenole und Carotinoide, die das Bild scheinbar komplettiert haben. Aber wer weiß schon, was die Karottenseele sonst noch auf
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