Lebens-Mittel
uns gern vor, Wissenschaftler wären frei von ideologischer Voreingenommenheit, aber natürlich sind sie genauso ein Produkt ihres ideologischen Umfeldes wie wir alle. Genauso wie der Nutritionismus beim Esser zu einem falschen Bewusstsein führen kann, kann er auch den Wissenschaftler leicht täuschen.
Das Problem fängt beim Nährstoff an. Der überwiegende Teil der Anhänger der Nährstoff-Theorie studiert die Nährstoffe einzeln, ein scheinbar unvermeidliches Vorgehen, das sogar von »Nährstoff-Wissenschaftlern«, die ihren Job gut machen, als extrem fehleranfällig bezeichnet wird. »Das Problem bei der Ernährungswissenschaft, die Nährstoff für Nährstoff betrachtet«, schreibt die Ernährungswissenschaftlerin Marion Nestle von der New York University, »besteht darin, dass sie den Nährstoff aus dem Kontext des Nahrungsmittels, das Nahrungsmittel aus dem Kontext der Ernährung und die Ernährung aus dem Kontext des Lebensstils herausnimmt«.
Wenn die Ernährungswissenschaftler das wissen, warum machen sie es dann trotzdem? Weil die Fixierung auf die Wirkung einzelner Nährstoffe der Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben wird, quasi eingebaut ist. Wissenschaftler untersuchen Variablen, die sie isolieren können; wenn sie eine Variable nicht isolieren können, sind sie nicht in der Lage zu sagen, ob deren An- oder Abwesenheit bedeutsam ist. Aber selbst das einfachste Lebensmittel ist ein hoffnungslos kompliziertes Analyseobjekt, ein Urwald aus chemischen Verbindungen sozusagen, von denen viele in einer weit verzweigten und dynamischen Beziehung zueinander stehen und die in ihrer Gesamtheit dabei sind, von einem Zustand in einen anderen zu wechseln. Ein Ernährungswissenschaftler tut also das Einzige, was er in Anbetracht der ihm zur Verfügung stehenden Instrumente tun kann: Er zerlegt sein Studienobjekt in seine Bestandteile und sieht sich diese nacheinander an, auch wenn das bedeutet, dass er subtile Interaktionen, Kontexte und die Tatsache, dass das Ganze durchaus mehr oder einfach anders als die Summe seiner Teile sein könnte, ignoriert. Dieses Vorgehen meine ich, wenn ich von reduktionistischer Wissenschaft spreche.
Der wissenschaftliche Reduktionismus ist ein unleugbar wirkungsvolles Instrument, aber er kann auch in die Irre führen, besonders wenn er auf etwas so Komplexes wie ein Lebensmittel einerseits und den menschlichen Esser andererseits angewandt wird. Er ermuntert uns dazu, diese Transaktion rein mechanistisch zu sehen: Rein mit diesem Nährstoff, raus mit jenem physiologischen Ergebnis. Aber Menschen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Wir alle kennen jene Glücklichen, die sich erstaunliche Mengen dick machender Lebensmittel einverleiben können, ohne je zuzunehmen. Manche Populationen können Zucker besser verstoffwechseln als andere. Je nachdem, was die Evolution Ihnen mitgegeben hat, können Sie die Laktose in der Milch verdauen oder nicht. Je nach genetischer Veranlagung kann Ihr Cholesterinspiegel sich ändern oder nicht, wenn Sie weniger gesättigtes Fett essen. Die spezielle Ökologie Ihres Darms bestimmt mit, wie effizient Sie verdauen, was Sie essen: Die gleichen 100 Kalorien Nahrung können mehr oder weniger Nahrungsenergie ergeben, je nachdem, wie es um das Verhältnis von Firmicutes und anderen Bakterienstämmen in Ihren Eingeweiden bestellt ist. Dieses Gleichgewicht der Bakterienstämme wiederum könnte durch Ihre Gene oder etwas in Ihrer Umgebung bedingt sein. Der menschliche Esser hat also nichts Maschinenhaftes, und Nahrung lediglich als Treibstoff zu betrachten hieße, sie völlig falsch zu verstehen. Es lohnt sich auch, daran zu denken, dass der menschliche Verdauungstrakt ungefähr genauso viele Neuronen wie die Wirbelsäule hat. Wir wissen noch nicht genau, wozu sie da sind, aber ihr Vorhandensein deutet darauf hin, dass bei der Verdauung sehr viel mehr passiert als die Aufspaltung von Lebensmitteln in chemische Substanzen.
Zudem essen die Leute keine Nährstoffe, sondern Nahrungsmittel, und die können sich ganz anders verhalten als die Nährstoffe, die in ihnen enthalten sind. Auf der Basis epidemiologischer Vergleiche zwischen verschiedenen Populationen glauben die Forscher seit langem, dass eine Kost mit viel Obst und Gemüse einen gewissen Schutz vor Krebs bietet. Also fragen sie natürlich: Welcher Nährstoff in diesen pflanzlichen Lebensmitteln ist für diese Wirkung verantwortlich? Eine Hypothese besagt, die Antioxidanzien in frischem Obst und
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