Lebens-Mittel
zu gierig gefolgt. Eine solche Erklärung suggeriert, das Problem der Fettarm-Kampagne wäre deren Ausführung und nicht die ihr zugrundeliegende Theorie gewesen, und eine bessere, klarere Botschaft hätte uns vor uns selbst schützen können. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass der Rat an sich, nämlich Nahrungsfette durch Kohlenhydrate zu ersetzen, ein Irrweg war. Wie die Hu-Metastudie ausführt, weist immer mehr darauf hin, dass der Wechsel von den Fetten zu den Kohlenhydraten zu einer Gewichtszunahme führen kann (sowie zu einer Menge anderer Probleme). Das ist nicht unmittelbar einleuchtend, denn Fette enthalten fast doppelt so viele Kalorien wie Kohlenhydrate (9 pro Gramm Fett, im Vergleich zu 5 bei Kohlenhydraten oder Protein). Die Theorie sagt, raffinierte Kohlenhydrate würden den Insulinstoffwechsel stören, sodass wir weiter Hunger haben, uns überessen und das Fett im Körper speichern. (Nennen Sie das die Kohlenhydrat-Hypothese; sie ist im Kommen.) 13 Wenn das stimmt, kommen wir nicht um die Schlussfolgerung herum, dass die bisherigen US-Ernährungsempfehlungen – von McGovern, der US-Akademie der Wissenschaften, der Amerikanischen Vereinigung für Herzgesundheit, der amerikanischen Krebsgesellschaft und der US-Lebensmittelpyramide – direkt für den schlechten Gesundheitszustand der Bevölkerung verantwortlich sind.
Auch wenn wir die Fettleibigkeits- und Diabetesepidemie als unbeabsichtigte Folge des Kriegs gegen das Nahrungsfett akzeptieren – als Kollateralschaden sozusagen -, wie sieht es dann mit der beabsichtigten Folge dieser Kampagne aus: dem Rückgang der Herzkrankheiten? Hier haben die Streiter der Fettarm-Kampagne ihre letzte Bastion; stolz weisen sie darauf hin, die Zahl der Todesfälle durch Herzkrankheiten wäre nach einem Maximum Ende der Sechzigerjahre in Amerika drastisch zurückgegangen, um 50 Prozent seit 1969. Auch die Cholesterinspiegel sind gefallen. Der Epidemiologe Walter C. Willett von der Harvard School of Public Health (ein Koautor der Hu-Studie) bezeichnet den vermehrten Verzehr von mehrfach ungesättigten Fetten »als einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Faktor für den Rückgang der Herzkrankheiten« in den 70er und 80er Jahren; die Kampagne, die gesättigten Fette in der Nahrung zu ersetzen, bezeichnet er als eine der großen gesundheitlichen Erfolgsgeschichten unserer Zeit. Und so schien es tatsächlich zu sein: Wir reduzierten unseren Verzehr gesättigter Fette, unsere Cholesterinspiegel sanken, und viel weniger Leute starben an einem Herzinfarkt.
Ob allerdings die Fettarm-Streiter sich für diese Leistung den Lorbeer ans Revers heften dürfen, ist fraglich. Weniger Tote durch Herzkrankheiten ist nicht das Gleiche wie weniger neue Fälle von Herzkrankheiten. Tatsächlich kann man sich fragen, ob die Herzkrankheitenrate sich in den letzten dreißig Jahren großartig verändert hat – was der Fall sein müsste, wenn eine veränderte Ernährung so wichtig wäre. Eine Zehn-Jahres-Studie zur Herzkrankheitenmortalität, die 1998 im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde, deutet stark darauf hin, dass der Rückgang der Todesfälle durch Herzkrankheiten nicht auf Änderungen des Lebensstils zurückzuführen ist – das heißt etwa auch der Ernährung -, sondern auf eine bessere medizinische Versorgung. (Wichtig war allerdings auch, dass weniger geraucht wurde.) Denn im Beobachtungszeitraum ging zwar die Herzinfarktmortalität stark zurück, nicht aber die Zahl der Krankenhauseinweisungen wegen eines Herzinfarkts. Die moderne Medizin kann eindeutig mehr Herzkranke retten; bei der Beseitigung der Krankheit als solcher waren wir nicht annähernd so erfolgreich.
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Schlechte Wissenschaft
Die Ernährungswissenschaft konnte sich beim Thema Nahrungsfette und Gesundheit deshalb so spektakulär vertun, weil es nicht einfach ist, Ernährungswissenschaft zu betreiben. Es ist sogar sehr viel schwieriger, als die meisten Wissenschaftler, die mit ihr ihren Lebensunterhalt bestreiten, sich klarzumachen oder zumindest zuzugeben bereit sind. Zum einen sind die ihnen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Instrumente in vielerlei Hinsicht schlecht für die Aufgabe geeignet, so komplexe Systeme wie Nahrung und Ernährung zu verstehen. Und auch die Annahmen des Nutritionismus – etwa die Vorstellung, ein Lebensmittel wäre nicht ein System, sondern eher die Summe seiner Nährstoffbestandteile – werfen eine Reihe von Problemen auf. Wir stellen
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