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Lebensabende & Blutbaeder

Lebensabende & Blutbaeder

Titel: Lebensabende & Blutbaeder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Rebhandl
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Siehst du mich, dein kleines süßes Reh? Siehst du, wie ich mir einen roten Pavianarsch friere, weil es hier herunten so verdammt kalt ist, kälter als in Sibirien. Pavel, ist es wenigstens warm da oben im Himmel? Ist es schöner als hier in Aussee?
    Ach, ich will ja gar nicht jammern, sucht die Ivana ihren Optimismus wieder und spricht weiter in die Dunkelheit hinein mit ihrem Pavel. Hast du mich vielleicht jemals jammern gehört oder fragen, wozu das alles gut gewesen sein soll, dass mich das Schicksal hierher verschlagen hat? Noch lebe ich ja, und du bist tot. Und der Tod, der richtige Tod im Bärengehege, das weißt du, Pavel, besser als ich, der ist bei weitem schlimmer als der langsame Tod, den ich mir bald in diesen Wetterkatastrophen holen werde, wenn ich nicht schnell von hier wegkomme. Denn es ist grausam hier, Pavel, nass und kalt. Ganz anders kalt als zu Hause in Nowaja Semlja, wo die Ivana ihre 24 Geschwister zurückgelassen hat.
    Jetzt, in ihrer einsamsten Nacht, denkt sie ständig an sie, zumindest an jene, an deren Namen sie sich noch erinnert. Am meisten aber denkt sie in dieser ausweglosen Situation an ihr geliebtes Mütterchen, die Wladimira, die sich immer noch den Buckel krummrackert auf den Atom-U-Booten der Nordmeerflotte und vielleicht die bekannteste Heldin der Arbeit, Neigungsgruppe Rauswischen, der Sowjetunion überhaupt war. Allein unter Genosse Breschnew, erinnert sich die Ivana nicht ohne Stolz, wurden ihrem Mütterchen bis heute unerreichte 17 Verdienstklobesen in Bronze und neun Verdienstputzkübel in Silber überreicht. Dazu wurden ihr 23 Verdienstklopapierblätter in reinem Gold zwar zugesagt, jedoch nie feierlich überreicht, weil das Reich des Bären natürlich in diesen Zeiten weit und breit kein Gold lagernd hat, woher auch nehmen, wenn nicht stehlen!
    Dafür muss sich ihr Mütterchen heute mit umgerechnet vielleicht 34 Cent auf die Hand begnügen, im Monat natürlich, Essensmarken exklusive, die hat ihr der Putin neuerdings auch gestrichen.
    Kein Wunder, denkt die Ivana nur positiv über ihr Mütterchen, kein Wunder, dass sie nebenher eine Lustige hat werden müssen. Allerdings, und jetzt muss die Ivana erstmals weinen, mit Sicherheit die traurigste Lustige der gesamten Sowjetrepubliken. Denn da müsste ihr Mütterchen schon einen ganzen Kübel Klebstoff schnüffeln, um sich an eine einzige lustige Minute in ihrem Leben zu erinnern, so unsagbar traurig verlief das Leben von ihrem Mütterchen.
    Mütterchen!, ruft die Ivana. Warum sind sie so weit weg, die Tage der Kindheit, als ich mich an dich, Mütterchen, schmiegen konnte, wenn du am Abend wie tot von der Arbeit am Atom-U-Boot nach Hause gekommen bist? Warum sind sie so schnell vergangen, die Tage, da ich Kind sein und an deinem Rockzipf hängen durfte? Gewiss, wir hatten nichts, Mütterchen, aber wir hatten uns, und du warst bei mir. Warum also sind sie so unwiederbringlich verloren, die Tage der langen Winter, an denen wir alle 25 Kinder 24 Stunden am Tag schlafen konnten, in unserem Bettchen mit den dicken Sibirientigerfellbezügen (den echten!), die ganz anders waren als die von diesem Mann da oben, der mich hierher gebracht hat. Längst vergangen auch der Tag, an dem du mir den ersten Wodka eingeflößt hast, oh Mütterchen, wie warm war es mir da plötzlich, wie warm in diesen bitterkalten Nächten auf Nowaja Semlja, wie wohlig warm war es mir nach diesem Wodka! Mütterchen, ich vermisse dich so sehr. Ich weine um dich, mein Mütterchen, bitte halte mich fest, bitte wärme mich, wenn ich bald wieder heimkommen werde zu dir. Ich werde bestimmt noch einmal heimkommen, Mütterchen, das werde ich bestimmt, irgendwie und irgendwann werde ich – heimkehren. Warum soll das denn nicht sein? Das ist doch alles möglich. Und das ist nicht bloß möglich, das ist sogar gewiss!
    Die Ivana spürt mittlerweile ganz gehörig den Klebstoff, den sie hier im Heimwerkerkeller des Tigers ertastet hat und der sie nun wie in einem Nazi-Propagandafilm stottern lässt. Sie schnüffelt den Klebstoff gegen die Kälte (sinnlos) und gegen die Angst (geht so). Sie macht sich Hoffnung mit dem Klebstoff (bald wird sie mehr brauchen) und verscheucht damit ihre depressiven Gedanken, die sie verfolgen seit jenen seltsamen Ereignissen oben in Strudelwasser a.d.O.
    Warum soll sie also, wenn sie erst den ganzen Klebstoff geschnüffelt hat, nicht wirklich noch einmal heimkehren dürfen, fragt sie sich. Denk doch bloß, Ivana, feuert sie sich an, wie das

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