Lebensbilder I (German Edition)
wahrscheinlich meine Schriften im Brüsseler Nachdruck gelesen?‹ fragte Balzac. ›Ich glaube, ja!‹ antwortete Tieck. ›Es muß wohl sein,‹ erwiderte jener, ›denn die beiden Romane sind gar nicht von mir, und die Brüsseler Nachdrucker [Fußnote: Die Schamlosigkeit des Brüsseler Nachdruckes ging ins Ungeheuerliche. 1829 wiesen die Pariser Buchhändler in einer Bittschrift darauf hin, daß ein Brüsseler Nachdrucker von 1825 bis 1827 allein 318615 Bände im Werte von 1183515 Franken nachgedruckt habe (»Morgenblatt« 1829, Nr. 234). ] haben bloß auf meinen Namen spekuliert und sie unter demselben herausgegeben, um Absatz zu finden [Fußnote: Beide Werke gehen noch immer – vgl. die »Édition du Centenaire« , bei Calman Lévy – unter Balzacs Namen und sollen aus den Jahren 1822 und 1824 stammen. ] . Ich habe die Sache für unbedeutend gefunden, um dagegen zu reklamieren. Jetzt, da ein berühmter deutscher Autor sie als meine besten Werke erklärt, werde ich wohl öffentlich protestieren müssen.«
Balzac hat den angekündigten Protest niemals erhoben, wie er auch gegen Schiffs Verfälschungen niemals etwas unternahm. Ob er sie jemals zu Gesichte bekam, ob sie ihm mißfielen, ist nicht bekannt geworden. Sie waren ein literarisches Kuriosum, das, anders erdacht als es wirkte, jedenfalls den historischen Vorzug hat, Balzacs Dichtung, wenn auch in gründlich veränderter Form, in Deutschland zum ersten Male zur Geltung gebracht zu haben.
Hermann Schiff
Zu Eckermann äußerte sich Goethe einmal: »Der persönliche Charakter des Schriftstellers bringt seine Bedeutung beim Publikum hervor, nicht die Künste seines Talentes. Napoleon sagte von Corneille: ›S'il vivait, je le ferais Prince‹ – und er las ihn nicht. Den Racine las er; aber von diesem sagte er es nicht. Deshalb steht auch der Lafontaine bei den Franzosen in so hoher Achtung, nicht seines poetischen Verdienstes wegen, sondern wegen der Großheit seines Charakters, der aus seinen Schriften hervorgeht.« – Damit hat Goethe allen Literaten, deren Charaktere anfechtbare Züge aufweisen, das Todesurteil gesprochen. In dieser Allgemeinheit trifft indes die Behauptung nicht zu, und Goethe selbst hat ja dem unglücklichen Johann Christian Günther , dem sein Leben wie sein Dichten zerrann, nachdem er schon als Leipziger Student Günthers dichterischen Spuren gefolgt war, ein Erinnerungszeichen gewidmet, das den Unglücklichen, in seinem Leben sicher nicht ganz Einwandfreien keineswegs in Grund und Boden verdammt. Aber mit kleinen Einschränkungen trifft Goethes Anschauung zweifellos das Richtige; der persönliche Charakter der Schriftsteller entscheidet sehr oft die Bewertung nicht nur bei der Kritik, sondern auch bei der Menge. Heine und Grabbe leiden unter dieser moralisierenden Einschätzung beträchtlich, und ihr völliges Durchdringen ist in Deutschland noch immer durch die Tatsache erschwert, daß ihr Lebenswandel nicht allgemein gültigen Sittlichkeitsbegriffen entspricht. Die Einbeziehung des moralischen Wertes eines Schriftstellers bei seiner ästhetischen Beurteilung ist unschwer verständlich; da die große Menge ein Buch nicht nur als Bildungs-, sondern auch als Erziehungsmittel betrachtet, erwählt sie zur Lektüre immer lieber das eines gefesteten, einwandfreien als das eines anrüchigen oder auch nur verdächtigen Charakters. Daß dabei nur allzuoft blasphemisches Spießbürgertum das maßgebendste Urteil spricht, mag bedauerlich sein; verkennen und übersehen läßt sich diese Wahrheit nicht.
Sie ist die stichhaltigste Erklärung für die völlige Ignorierung des Balzacumdichters Hermann Schiff, der vielleicht von den tragischesten Verhängnissen heimgesuchten dichterischen Persönlichkeit Deutschlands. Soviel Elend hat das Schicksal selten über einen deutschen Dichter gebracht, von denen ja auch sonst viele nicht gerade Schoßkinder des Glückes waren und sind. Aber im Erdulden des fast kettenartig geschlossen über ihn hereinbrechenden Ungemachs übertrifft Schiff sie alle, wie bös den andern auch Mühsal und Jammer mitgespielt haben mögen. Im Leben wie nach dem Tode blieb ihm nichts erspart von all dem Leid, das Menschen treffen kann. Gewiß schloß sich auch für andere Dichter die Pandorabüchse nicht früher, als bis sie alles über sie geschüttet hatte, was jenen an Not und Qual zugedacht war. Jedoch die meisten führten wenigstens ein glücklicheres Leben nach dem Tode, indem ihnen eine gerechtere Nachwelt das zu
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