Lebensbilder II (German Edition)
Kinder haben nicht Kraft mehr zu schreien! Ach, welch ein Auftritt, ich komme daher.«
Der Arzt schwieg, und der Graf hatte wie unwillkürlich seine Hand in die Westentasche gesteckt.
«Ich begreife, wovon sie lebt, wenn Sie ihr Arzt sind,« sprach der Greis.
«Das arme Geschöpf, wer möchte ihr nicht helfen? Wäre ich doch reich! denn ich hoffe, sie von ihrer Liebe zu heilen.«
»Aber,« sprach der Graf und zog die Hand aus seiner Tasche, ohne daß der Arzt, wie er gehofft, Geld darin gesehen. »Aber wie wollen Sie, daß ich einer Unglücklichen mein Mitleid schenken soll, deren Schicksal ich mit meinem ganzen Vermögen erkaufen möchte? Sie liebt, sie fühlt, folglich lebt sie. Hätte Ludwig XV. nicht sein ganzes Königreich darum geschenkt, um einmal nur seinen Sarg zu verlassen und einen Tag zu leben und jung zu sein? Ist das nicht die Geschichte von tausend Toten, tausend Sterbenden und tausend Greisen?«
»Oh, arme Karoline!« seufzte der junge Arzt.
Bei diesem Namen erbebte der Graf, packte seinen Arm wie mit ehernen Krallen.
»Karoline Crochard?« fragte er.
»Sie kennen sie?« rief der Arzt erstaunt.
»Sie ist's, ist's! – Ja. Sie haben Wort gehalten. Sie wollten mich rühren. Sie haben mein Herz zur fürchterlichsten Bewegung erregt, die es nur geben kann. Für dieses Gefühl bin ich nicht reich genug, Ihnen zu danken.«
Der Graf und der Arzt standen in diesem Augenblick an der Ecke der Rue Chaussee d'Antin. Ein Lumpensammler betrieb unfern der Redenden sein nächtiges Werk und suchte nach in der Gosse.
»Findest du oft Banknoten von 1000 Franken?« fragte ihn der Graf aufgeräumt.
»Freilich.«
»Gibst du sie wieder?«
»Wenn die Belohnung danach ist.«
»Das ist ein Mann!« rief der Graf, »hier sind 1000 Franken. Versteh' mich aber wohl, du sollst sie in die Schenke tragen, dich betrinken. Streit anfangen, dich hinauswerfen lassen, sodann heimkehren, deine Frau schlagen und deinen Kindern die Augen auskratzen; das bringt die Wachen in Bewegung, die Wundärzte, die Richter und Henker. – Vergiß nichts von allem diesen, sonst rächt sich der Teufet früh oder spät an dir.«
Der Lumpensammler stand da und sah den Geber groß an; zweifelhaft, ob er sie nehmen sollte oder nicht, hielt er die Note in der Hand.
»Nun ist die Rechnung mit der Hölle geschlossen,« rief der Graf, »und ich habe mich für mein Geld amüsiert. – Was Karoline Crochard betrifft, so mag sie vor Hunger und Durst meinetwegen umkommen, möge das Geschrei ihrer sterbenden Kinder sie ersticken. Nicht einen Heller gebe ich, ihr Leid zu mildern: sie hat einen anderen lieb, mag der ihr helfen, den sie liebt.«
Nach diesen Worten verließ er den Arzt, der erstaunt dem Sonderling nachsah, wie er mit jugendlich-schnellen Schritten nach der Rue Lazare eilte.
Bald hatte der Graf seine Wohnung erreicht und wunderte sich nicht wenig, einen Wagen vor seinem Hotel halten zu sehen.
»Der Herr Vicomte ist hier,« meldete der Kammerdiener, »und wartet im Schlafzimmer auf den gnädigen Herrn.«
Grandville gab seinem Diener ein Zeichen zu gehen und öffnete die Tür jenes Gemaches.
»Welch ein besonderer Grund bewog dich, meinen Befehl, daß keines meiner Kinder ungerufen vor mir erscheinen soll, zu übertreten?«
»Lieber Vater, ich hoffe. Sie werden mir vergeben, sobald Sie alles wissen.«
»Die Antwort eines Gerichtsbeamten. Gut, setze dich.« Er reichte seinem Sohn einen Sessel. »Was mich betrifft, so kümmre dich nicht darum, ob ich sitze oder stehe.«
»Lieber Vater! heut nachmittag um 4 Uhr ward ein sehr kleiner junger Mann durch einen meiner Freunde auf Verdacht eines sehr bedeutenden Diebstahls in Verhaft genommen. Er beruft sich auf Sie und nennt Sie seinen Vater.«
»Wie heißt er?« fragte der Graf zitternd.
»Karl Crochard.«
»Genug. O Karoline! so bist du mir treu geblieben, dein Sohn also war mein Nebenbuhler.«
Schweigend ging er eine Zeitlang im Zimmer auf und nieder. Sein Sohn kannte ihn zu gut, als daß er ihn zu stören wagte.
»Mein Sohn,« hub er an, mit so zärtlicher Stimme, wie der junge Vicomte lange nicht gehört. »Karl Crochard hat dir die Wahrheit gesagt. Ich danke dir von Herzen, mein lieber Eugen, daß du heut noch gekommen bist. Hier hast du Geld!« Er reichte ihm einen ziemlich großen Haufen Banknoten. »Verwende es ganz nach deinem Dafürhalten. Ich verlasse mich gänzlich auf dich und billige im voraus alles, was du jetzt und künftig zu tun gedenkst.
Eugen, geliebtes Kind! komm
Weitere Kostenlose Bücher