Lebensbilder II (German Edition)
Kann ich meinem Herzen gebieten, kann ich die traurigen Erinnerungen einer fünfzehnjährigen unglücklichen Ehe im Augenblick aus meinem Gedächtnis tilgen? – Ich liebe Sie nicht mehr! Diese Worte verkünden ein Geheimnis, eben so tief und gewaltig wie das süße Wort: Ich liebe Sie! – Achtung, Ehrfurcht, Vertrauen kommen, schwinden und kehren wieder, aber nicht die Liebe; ich kann jahrelang danach ringen, ohne sie wieder zu erwerben.«
»Gut, Herr Graf! Mögen Sie nie diese fürchterlichen Worte von derjenigen vernehmen, die Sie lieben, und zwar mit dem Ausdruck und der Stimme, wie Sie sie mir eben sagten, dies ist mein aufrichtiger Wunsch.«
»Wollen Sie heute mit mir zur Oper fahren und ein Kleid à la grecque tragen?«
Unwillkürlich schauderte Angelika bei dieser Frage.
In den ersten Dezembertagen des Jahres 1829 zeigte sich spät abends in der Rue de Gaillon ein Mann, der wohl mehr Leiden als Jahre zählte, denn höchstens war er ein Fünfziger, und sein Haar war schon silberweiß.
Er trat vor ein unansehnliches Haus, welches nur zwei Stockwerke hoch war, und schaute mit unverwandten Blicken nach zwei Fenstern im Dachgeschoß, welche ein schwaches Licht nur spärlich beleuchtet; hin und wieder fehlten auch die Scheiben, und die Öffnungen waren mit Papier verklebt.
Mit unbeschreiblicher Neugier blickte er nachdem gelblichen, bald heller, bald dunkler schimmernden Glanze, als plötzlich ein junger Mensch aus dem Hause trat. Das Licht einer nahen Laterne fiel auf das Antlitz des Neugierigen, so daß der junge Mann stutzte, aufmerksam ward, zögernd naher kam und immer noch fürchtete, sich zu täuschen.
«Wie? was?« rief er endlich, »sind Sie es denn wirklich, Herr Graf? – Allein, zu Fuß, um diese Stunde, und so weit von der Rue Lazare? Erlauben Sie mir, Ihnen den Arm zu bieten, das Pflaster ist heut abends, oder besser, heut morgens so glattgefroren, daß, wenn wir uns nicht gegenseitig unterstützen, wir mit jedem Schritte zu fallen Gefahr laufen.«
»Aber, mein teurer Herr!« begann der Graf Grandville, »ich zähle erst fünfzig Jahre, schlimm genug für mich, und ein so weit berühmter Arzt wie Sie sollte billigerweise wissen, daß man alsdann noch in seinen besten Jahren ist.«
«So haben Sie ein Liebesabenteuer?« fragte der Arzt. »Wie ich glaube, ist es nicht Ihre Gewohnheit, zu Fuße Paris zu durcheilen. Sie haben so schöne Pferde.«
»Wenn ich nicht in Gesellschaft bin,« antwortete Grandville, »gehe ich zu Fuße vom Palais Royal oder Herrn von Livry.« –
»Und tragen gewiß große Summen Geldes bei sich,« rief der Arzt. «Aber heißt das nicht, die Dolche der Meuchelmörder herausfordern?«
»Ich fürchte sie nicht,« entgegnete Grandville traurig und sorglos.
»Wenigstens steht man nicht stille,« sprach der Arzt und führte den alten Regierungsbeamten zum Boulevard. »Wenig fehlt, so glaube ich. Sie wollen mir ihre letzte Krankheit stehlen und von einer anderen Hand sterben als der meinigen!«
»Sie haben mich überrascht, als ich aufs Spionieren aus war,« antwortete der Graf. »Ich mag nun zu Fuß oder zu Wagen und zu welcher Stunde der Nacht es sei hier vorübergehen, seit einiger Zeit bemerke ich in dem dritten Stockwerke eben des Hauses, aus welchem Sie kamen, den Schatten eines Frauenzimmers, die mit einem heroischen Fleiße die Nacht hindurch zu arbeiten scheint.«
Bei diesen Worten machte der Graf eine Pause, als träfe ihn ein jäher Schmerz.
»Für dieses Dachgeschoß interessiere ich mich ebensosehr,« fügte er hinzu, »wie ein Pariser Bürger für die Vollendüng des Palais-Royal.«
»Wohl!« rief der junge Arzt lebhaft, »ich kann Ihnen – «
»Sagen Sie mir nichts!« unterbrach Grandville die Reden desselben. »Nicht einen Centime geb' ich drum zu wissen, ob jener Schatten einem Manne oder einer Frau gehört, einem Glücklichen oder Unglücklichen. Wenn ich heute wider meine Gewohnheit den Schatten nicht traf und deshalb stehen blieb, so geschah es nur, um mich allen Phantasien und Schlüssen zu überlassen, die eine so plötzliche Veränderung in mir erzeugen mußte.«
Der Graf schwieg von neuem, machte eine schmerzliche Bewegung und rief dann wieder:
»Nein! ich will Sie nicht meinen Freund nennen. Zuwider ist mir alles, was im entferntesten nur auf Empfindungen anspielt. Seit zwei Jahren wundert's mich nicht mehr, daß Greise so gerne Blumen warten, Bäume ziehen – die Ereignisse ihres Lebens haben sie dahin gebracht, der menschlichen
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