Lebenschancen
sie sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte angeeignet hat. Die Selbstverständlichkeit, mit der man Erwartungen an die eigenen Lebenschancen sowie die der eigenen Kinder richten durfte, ist verschwunden. Der im Sommer 2010 verstorbene britische Historiker Tony Judt hat das Westeuropa der Nachkriegszeit in einem Interview einmal als »Sicherheitssektor« bezeichnet ( FAZ vom 1. Dezember 2006, S. 46), als einzigartige Konstellation, basierend auf der Idee der ewigen Sicherheit, des endlosen Wohlstands und dauerhaft eingehegter Ungleichheiten. Es war wie ein Leben unter einem Schutzschild, weitgehend immun gegenüber den Härten der restlichen Welt. Jetzt ist dieses Programm an ein Ende gelangt, es scheint fast so, als hätten wir die Sicherheitszone verlassen. Die Mittelschicht, die wir kannten, verändert sich: ihr Sicherheitsgefühl, die ihr eigenen Erwartungen an Stabilität und Wohlstandsmehrung. Zwar hängen Wohl und Wehe der Mittelschicht an der wirtschaftlichen Entwicklung, doch selbst mehr Wachstum, höhere Einkommen und neue Jobs vermögen das Wohlstandsgefühl der achtziger Jahre nicht wiederaufleben zu lassen. Die Mitte ist verunsichert ob dessen, was da kommen mag.
Der kurze Traum des dauerhaften Aufstiegs
Warum ist unserer Gesellschaft, und insbesondere der Mittelschicht, der optimistische Grundton verloren gegangen? Die Ursachen sind vielfältig. So haben wir erlebt, wie der Glaube an die Steuerbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung und der Fortschrittsoptimismus ganz allgemein entzaubert wurden. Die Gesellschaft ließ sich nicht einfach beherrschen wie ein kybernetisches System, trotz der Vervielfachung des Wissens und der Erhebung immer neuer Indikatoren. Wir wissen zwar immer mehr über die Einzelteile des gesellschaftlichen Organismus, aber immer weniger darüber, wie diese im Großen und Ganzen zusammenhängen. Schon lange vor der Wirtschafts- und Finanzkrise konnte man überdies an vielen Orten die »Grenzen des Wachstums« beobachten. Das betraf nicht nur Fragen von Ökonomie und Ökologie, sondern auch die Grenzen der Bildungsexpansion oder des Wohlfahrtsstaates. Anschlussfragen traten auf den Plan: Warum stagniert trotz wirtschaftlichen Wachstums die Lebensqualität? Warum führt die Bildungsexpansion nicht zum Abbau von Bildungsungleichheit? Warum werden viele Privatleute immer reicher, während Bund, Ländern und Kommunen das Geld ausgeht? Warum bestehen Probleme der Deprivation und Mangellagen trotz umfangreicher staatlicher Transferprogramme fort? Wie konnte es dazu kommen, dass Finanzmärkte der Politik diktieren, was sie zu tun und zu lassen hat?
Die Skepsis bezüglich der Frage, inwieweit wir den Wohlstands- und Wachstumspfad auch in Zukunft in gewohnter Weise beschreiten können, wächst. Viele Autoren attestierten dem Kapitalismus zwar schon vor 30 oder 40 Jahren eine immanente Krisenanfälligkeit, doch dieser Diskurs erscheint im Rückblick als Jammern auf hohem Niveau, als akademische Begleitmusik, orchestriert von frühen, überwiegend linken Zweiflern. Die wachsende Diskrepanz zwischen Wachstum und Wohlstand hat Burkart Lutz in seinem 1984 veröffentlichten Buch Der kurze
Traum immerwährender Prosperität umfassend analysiert. Er prognostizierte eine zunehmende Entkopplung von ökonomischem Wachstum und gesellschaftlicher Wohlstandsdynamik. In der Folge würde es immer schwieriger werden, das kollektive Aufstiegsversprechen vom »Wohlstand für alle« einzulösen.
Zunächst hat sich das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung seit der Ölkrise Mitte der siebziger Jahre verlangsamt. Die Frage nach der Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand ließ sich daher nicht länger einfach mit »Mehr für alle« beantworten. Zudem liefen Wachstum und allgemeiner Wohlstand zunehmend auseinander. Nicht nur lag das durchschnittliche Wachstum in Deutschland von 1970 bis 2010 unterhalb dem vergleichbarer westlicher Länder, auch die Lohnentwicklung hinkte zunehmend den ökonomischen Wachstumsraten hinterher. Über längere Phasen hinweg (2001, 2004-2009) mussten die Arbeitnehmer sogar sinkende Reallöhne hinnehmen – dies ist beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik. Nach Angaben von Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ( DIW ) ist das preisbereinigte Nettoeinkommen der Arbeitnehmer von 2000 bis 2009 um 4,5 Prozent gesunken, in den unteren Einkommensgruppen sogar noch stärker. Ob Lohnzuwächse in jüngeren Jahren und die Lohnrunde 2012 wirksame und
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