Lebenschancen
(Vogel 2009: 39). Die Angehörigen dieser Schicht waren verlässliche Bürger, Wähler, Arbeitnehmer und Konsumenten. Auch in der Mitte selbst hatte sich eine Mentalität der wohligen Sicherheit ausgebreitet. Vom Markt generierter Wohlstand und staatlich garantierte Sicherheit schienen sich auf kongeniale Weise zu ergänzen. Nicht, dass es gar keine sozialen Gefährdungen mehr gegeben hätte, die individuelle Lebenswege erschüttern konnten. Doch die kollektive Aufstiegserfahrung überstrahlte die verbleibende Restunsicherheit. Erreichbare Verbesserungen für alle und begründete Aufstiegshoffnungen waren die zentralen Legitimationsformeln dieser Zeit. Das hatte auch Rückwirkungen auf den alten Klassenkonflikt, dessen Quell über lange Zeit die Verarmung der Massen gewesen war. Stattdessen entstand nun eine »Mehrheitsklasse derer […], die dazugehören und daher hoffen können, viele ihrer Lebensabsichten ohne grundlegende Veränderungen bestehender Strukturen zu verwirklichen« (Dahrendorf 1992: 169).
Diese gesicherte Mehrheitsklasse war von vielen Dingen entlastet, die den Beziehern kleiner Einkommen oder den Menschen im Abseits Sorgen bereiten. Über eine angemessene Sicherung im Alter, die Zahlung der nächsten Miete, steigende Heizkos
ten, das Geld für den Nachhilfeunterricht der Kinder – darüber musste sich die Mittelschicht in der Bundesrepublik nicht länger den Kopf zerbrechen. Die Arbeitsverhältnisse waren standardisiert und tarifrechtlich abgesichert, die schulische, berufliche und universitäre Ausbildung garantierte praktisch den sozialen Aufstieg, der steigende Pegel der wirtschaftlichen Erträge trug viele Menschen sanft mit nach oben. Und wo der Markt allein das Auskommen nicht sicherte, sprang einem der sorgende Staat zur Seite und kompensierte soziale Risiken. Statussorgen gab es in der Mittelschicht allenfalls an den Rändern und in Übergangszonen. Die Mehrzahl der Menschen blickte optimistisch in die Zukunft. Irgendwie fühlte sich (fast) die ganze Bundesrepublik wie nach einem ausgiebigen Sonntagsmahl: satt, saturiert und zufrieden.
2. Erschütterungen der Mitte
Winfried Händel (Name geändert) zieht seine Rechnungsordner aus dem Regal und hört gar nicht mehr auf zu erzählen. Die Ordner enthalten, säuberlich dokumentiert, alle Stationen seines »Niedergangs«, wie er seine Abstiegskarriere nennt: Rechnungen, Schreiben seines ehemaligen Arbeitgebers, die Korrespondenz mit der Arbeitsagentur. Der eloquente Mann Mitte fünfzig aus Monheim am Rhein hatte sein Leben viele Jahre lang im Griff und war als Softwareentwickler erfolgreich. Er verdiente gutes Geld, kaufte für die vierköpfige Familie ein großzügiges Eigenheim und hat viel von der Welt gesehen. Jährlich zwei Fernreisen mit der Familie und Wandertouren mit alten Freunden waren der Standard. Vor seinem Haus parkte ein Audi A8. Als die Firma 2006 nach Berlin umzog und sich im Zuge dessen verkleinerte, widerfuhr ihm das Schicksal vieler, die aus der Normalexistenz herausfallen und nicht wieder auf die Beine kommen. Der Versuch, sich freiberuflich durchzusetzen, scheiterte und mündete in Verschuldung. Für einen neuen Job erwies er sich als zu alt: Weder hatte er die erforderlichen Spezialisierungen, um mit den jungen Programmierern konkurrieren zu können, noch die Zusatzqualifikationen und Erfahrungen, die für eine Stelle im Management erforderlich sind. Mit dem Arbeitslosengeld kam die Familie noch zurecht, aber mit der Grundsicherung wurde es eng. Reisen mussten gestrichen, die Ersparnisse aufgebraucht, das Auto abgeschafft, die Kinder vom Musikunterricht und vom Reiten abgemeldet werden. Frau Händel sah sich nach einer Teilzeitbeschäftigung um, doch das erwies sich als schwierig. Dann wurde die Familie von der Arbeitsagentur aufgefordert, sich eine angemessene Wohnung zu suchen und das große und teure Haus aufzugeben. Sie zogen in ein kleineres Dorf in der Nähe, die Kinder mussten die Schule wechseln. Eines Tages fand sich Winfried Händel beim Ver
teilen von Reklameprospekten wieder. »Ich hätte nie geglaubt, wie schnell das alles gehen kann«, sagt er heute.
Seit geraumer Zeit ist von der Erosion der Mitte die Rede. Statt vom saturierten Wohlstand spricht man nun von neuen Risiken und Wohlstand auf Abruf. Statt von Sicherheit von Unsicherheit. Statt von kollektivem Aufstieg von Statuspanik und beschränkten Lebenschancen. Es scheint fast so, als komme der Mittelschicht genau jene Selbstgewissheit abhanden, die
Weitere Kostenlose Bücher