Lebenschancen
dauerhafte Gegentrends auslösen, ist noch weitgehend offen. Eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey (2008) geht davon aus, dass ohne deutliches Wachstum (über drei Prozent) die Bevölkerungsgruppe mit mittleren Einkommen schrumpft und weiterhin von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt bleibt, weil die mittleren Einkommen geringer wachsen als das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Dazu kommen die von der öffentlichen Hand angehäuften Schulden, die langfristig wie Wohlstandsbremsen wirken und noch über Generationen hinweg zu größeren Belastungen der Mittelschichthaushalte führen werden, selbst wenn der Staat zum Teil bei den eigenen Bürgern verschuldet ist. Bei den wichtigen Wohlstands- und
Wohlfahrtsproduzenten Markt und Staat knirscht also der Sand im Getriebe, das »Glücksversprechen immerwährender Wohlstandsvermehrung« (Miegel 2010: 60) können sie kaum noch glaubwürdig vertreten. Der Fahrstuhl scheint irgendwo festzusitzen, der Wohlstands- und Aufstiegsautomatismus funktioniert nicht mehr.
Die Ungleichheitsschere öffnet sich
Es geht allerdings nicht nur um die Größe des Kuchens (also das Wachstum), sondern immer auch darum, wer wie viel davon abbekommt. Das heikle Thema der Verteilung ist ideologisch aufgeladen und hoch emotionalisiert. Denjenigen, die eine ausgewogene Verteilung befürworten, wird nicht selten vorgeworfen, solche Forderungen seien neidbesetzt und würden diejenigen bestrafen, die als Leistungsträger für die Gesellschaft unverzichtbar sind. Etwas nüchterner kann man über diese Dinge diskutieren, wenn man auf Verteilungstrends schaut und nach ihren Ursachen fragt. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Simon Kuznets (1955) nahm noch in den fünfziger Jahren an, es gebe eine historische Entwicklung hin zu weniger Ungleichheit. Er konnte zeigen, dass die Einkommen in vorindustriellen, agrarisch geprägten Gesellschaften relativ gleich verteilt waren. Im Zuge der Industrialisierung und der Abwanderung der Menschen in die Städte wuchs die Ungleichheit dann an. Sie verringert sich allerdings wieder, wenn die meisten Beschäftigten in industriellen Sektoren mit relativ hohen Löhnen tätig sind. Wirtschaftswissenschaftler sprechen hier von der umgekehrten U-Funktion. Seit den achtziger, spätestens seit den neunziger Jahren ist diese Tendenz allerdings zum Stillstand gekommen. Mehr noch: Sie kehrte sich sogar um, was oft als »Great U-Turn« bezeichnet wird (Harrison/Bluestone 1988). In vielen westlichen Ländern steigt die Einkommensungleichheit seither spürbar an. Die englisch
sprachigen OECD -Länder wie die USA und Großbritannien sind schon seit den siebziger Jahren von einem Trend zu mehr Ungleichheit erfasst, spätestens seit den neunziger Jahren hat diese Entwicklung aber auch auf Länder mit einer traditionell eher ausgeglichenen Verteilungsstruktur übergegriffen, so etwa auf Dänemark, Schweden oder Deutschland ( OECD 2008; OECD 2011). Zwar gibt es wissenschaftliche Kontroversen über Stärke und genauen Verlauf der Entwicklung, doch dass sich die Schere der Einkommensungleichheit seit den achtziger Jahren geöffnet hat, ist ein gesicherter Befund. Wir beobachten dabei, dass die Ungleichheit sowohl in traditionell ungleichen wie auch in eher gleichen Gesellschaften steigt, dass die Entwicklung hin zu mehr Ungleichheit trotz Beschäftigungswachstum anhält und dass dieses Ungleichheitswachstum sowohl in Phasen der Rezession wie auch des Booms festzustellen ist.
Gerade im internationalen Vergleich sticht die Situation in Deutschland dabei hervor. In der großen OECD -Studie Mehr Ungleichheit trotz Wachstum? (eleganter ist der englische Titel Growing Unequal? ) heißt es:
»Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD -Land. Der Anstieg zwischen 2000 und 2005 übertraf jenen in den gesamten vorherigen 15 Jahren (1985-2000). Die steigende Ungleichheit ist arbeitsmarktinduziert. Einerseits nahm die Spreizung der Löhne und Gehälter seit 1995 drastisch zu – notabene nach einer langen Periode der Stabilität. Andererseits erhöhte sich die Anzahl der Haushalte ohne jedes Erwerbseinkommen auf 19% – den höchsten Wert innerhalb der OECD . Ebenso ist der Anstieg der Ungleichheit auf Änderungen in der Haushaltsstruktur zurückzuführen, wie etwa die Zunahme von Single-Haushalten und Alleinerziehenden.« (2008: 1)
Der Gini-Koeffizient, das wichtigste Maß zur Messung von
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