Lebenschancen
vielleicht noch in den neunziger Jahren ließ sich mit
Verve gegen unflexible Arbeitsmärkte, die Sozialstaatshängematte und sklerotische Verhältnisse polemisieren. Deutschland galt als »kranker Mann Europas«, doch diese Reibebäume sind nach und nach gefällt worden. Flexibilisierung und Privatisierung haben sich ausgebreitet, die materielle Sicherheit wurde tendenziell ausgedünnt, neue Risiken sind entstanden, während Märkte und Großunternehmen ihren Einfluss ausbauen konnten.
Die neoliberale Euphorie mag im Zuge der Finanzkrise der Jahre 2008 ff. abgeflaut sein, sie wirkt jedoch weiter, und ihre Folgen werden uns noch lange beschäftigen. Auch Menschen mit guter Bildung, die sich an Aufstieg, Sicherheit und materiellem Wohlstand orientieren, ist im letzten Jahrzehnt klar geworden, dass sie zunehmend den Stimmungen des Marktes ausgesetzt sind und welche sozialen Kosten diese Entwicklung mit sich bringt. Das Unbehagen an der Ökonomisierung und Vermarktlichung vieler Lebensbereiche wächst, der »Privatisierungskult« (Judt 2010: 89), also die massenhafte Veräußerung staatlicher und kommunaler Dienstleistungsbetriebe und Versorgungseinrichtungen, zieht ebenfalls immer mehr Kritik auf sich. Um den Börsengang der Deutschen Bahn ist es beispielsweise recht ruhig geworden, weil sich davon kaum noch jemand eine Verbesserung der Servicequalität verspricht. Zudem hat sich gezeigt, dass die Liberalisierung einstmals öffentlich dominierter Bereiche auch Risiken birgt, weil Unternehmen Monopolstellungen ausnutzen, so dass die Qualität – entgegen der Versprechen der Neoliberalen – der Versorgung sinkt oder die Preise steigen. Besonders augenfällig ist das Marktversagen auf den Finanzmärkten, auf denen es eine galoppierende Entkopplung von realwirtschaftlichen Entwicklungen mit großen Kollateralschäden gibt, die schließlich auch noch öffentlich abgesichert und refinanziert werden sollen. Der Markt mag die Antwort auf viele Probleme sein, aber eben nicht für alle, und mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ist das noch offensichtlicher geworden. Statt das
Lied vom Staatsversagen zu singen, sprechen nun alle vom Marktversagen und den Exzessen der Finanzbranche, von falscher Gier und fetter Beute. Die »Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft« (Vogel 2007) (oder zumindest großer Teile derselben) scheint gerade in Krisenzeiten zu steigen – einerseits. Andererseits haben Vermarktlichung und Liberalisierung zu einer sukzessiven politischen Entmachtung der Mittelschichten geführt. Konnten sie lange Zeit sicher sein, dass ihr Wille im politischen Prozess Gehör finden würde, so hat sich das Drohpotenzial der Märkte mittlerweile deutlich erhöht. Es gehört zu den wesentlichen Irritationen der letzten Jahre, dass die Politik immer weniger in der Lage ist, soziale Interessen zu bedienen, während sie immer häufiger als Retter von Banken, Versicherungen oder anderen Großkonzernen einspringen und deren Risiken sozialisieren muss.
Solche Globalkrisen sind allerdings nicht die einzige Folge der Liberalisierung und Vermarktlichung, die zu einer zunehmenden Verunsicherung der Mittelschicht geführt haben. Nervosität, Angst und Druck gehen auch auf die Restrukturierung des Arbeitsmarkts zurück, auf die Globalisierung, die Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen und die Verlagerung von Risiken weg von den Unternehmen hin zu den Beschäftigten (Castel/Dörre 2009; Lengfeld/Kleiner 2007). Obwohl die Beschäftigungsstabilität in der Retrospektive relativ konstant blieb (Erlinghagen 2005, 2010), lassen sich einschneidende Umwertungen einstmals vertrauter Leitprinzipien der Arbeitsgesellschaft konstatieren. Das betrifft die Abwertung von Erfahrungswissen ebenso wie den Abschied vom Prinzip der Seniorität. Es betrifft weiterhin die Restrukturierung der Arbeitsbeziehungen und die Vergrößerung des Machtgefälles zwischen Kapital und Arbeit. Immer mehr Menschen berichten von neuen Formen der Arbeitsverdichtung, von dead-end jobs , einem Mangel an Anerkennung, erhöhtem Konkurrenz- und Leistungsdruck oder einem weithin grassierenden Gefühl der Gefährdung (um
fassend dokumentiert in Schultheis et al. 2010). Seit Mitte der achtziger Jahre nimmt die Arbeitszufriedenheit spürbar ab, die Ursachen liegen vor allem in der Intensivierung der Arbeit, geringen Lohnsteigerungen, Unsicherheiten und der nach wie vor suboptimalen Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Bohulskyy et al. 2011).
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