Lebenschancen
in Deutschland nähert sich somit der Lage in Ländern wie Großbritannien oder Frankreich an, in denen aufgrund größerer historischer Kontinuität über die Generationen hinweg wahrhafte Gelddynastien entstanden sind. Wie extrem die Schieflage hierzulande inzwischen schon ist, kann man daran ablesen, dass in Ostdeutschland nur drei Prozent des gesamtdeutschen Erbschaftssteueraufkommens entrichtet werden. Die Hamburger Bürger allein zahlen mehr als drei Mal so viel Erbschaftssteuer wie alle Ostdeutschen zusammen. Wenn wir uns dann noch einmal vor Augen führen, dass der Aufstieg in die Ränge der Vermögenden häufig über Erbschaften ver
läuft, so wird klar: Wer es aus der arbeitnehmerischen Mitte in die Schicht der Vermögenden schaffen will, für den werden Vermögensübertragungen von der Eltern- und Großelterngeneration bald unabdingbar sein (Kramer 2010: 264 ff.).
Werden am oberen Ende der Hierarchie große Vermögen und soziales Kapital vererbt, so ist es am unteren die Armut. Der Volksmund hat recht, wenn er sagt, dass »Kinder arm machen«, schließlich haben wir bereits gesehen, dass sich mit der Anzahl der Kinder das Armutsrisiko erhöht. Gleichzeitig gilt allerdings auch: »Eltern machen arm«, und »Aus armen Kindern werden arme Eltern«. Es gibt eine Vernarbung durch Armutserfahrungen im Kindesalter. Neben materieller Knappheit sind es psychosoziale Faktoren (Familienklima, Bildungszugang und soziale Teilhabe), die zur Vererbung von Armut führen. Schon Kinder sitzen im Kellergeschoss der Gesellschaft – oder eben auf der Dachterrasse. Samuel Bowles vom Santa Fe Institute, der sich als Verhaltensökonom und Anthropologe für die Vererbung von Ungleichheit interessiert, hat einmal ironisch angemerkt, der wichtigste Faktor für individuellen Erfolg sei zunehmend die Wahl der richtigen Eltern. Diese Entwicklung ist ein Frontalangriff auf das Prinzip der Chancengleichheit. In der PISA -Studie wurden 15-Jährige gefragt, in welchen Berufen sie sich im Alter von 30 Jahren sehen. Ergebnis: Je geringer der sozioökonomische Status der Eltern, desto weniger Erwartungen an sozialen Aufstieg (Beruf/Karriere) haben die Kinder. Umgekehrt gehen die zu Guttenbergs und Berggruens ganz selbstverständlich davon aus, dass sie den ererbten Platz in der sozialen Hierarchie übernehmen können. Die Entstehung eines Geldadels, der nicht nur Vermögen, sondern auch Lebenschancen erbt, wird in Zukunft eines der großen gesellschaftspolitischen Themen sein. Im Grunde handelt es sich dabei um die Achillesferse eines Gesellschaftssystems, das Leistungsgerechtigkeit verspricht und dennoch einer neuen »Dynastisierung« Vorschub leistet.
Wie ist nun das Verhältnis der Mittelschicht zu den unteren
Soziallagen? Die Mitte zeichnete sich lange Zeit auch dadurch aus, dass sie Talente aus den unteren Schichten absorbieren und inkludieren konnte. Auch das machte ihre Stärke und Dynamik aus, auch daher bezog sie ihre Legitimation. Deswegen sollte es eigentlich in ihrem Interesse liegen, zu große Rangabstände und Gräben zu verhindern und Aufstiegskanäle offenzuhalten. Doch wenn jedes Jahr 150 000 junge Menschen ohne Berufsabschluss ins Leben starten (hochgerechnet auf die Altersgruppe der 25- 34-Jährigen insgesamt sind das 1,5 Millionen Menschen), dann ist ihr Abstand zur Mittelschicht schon fast in Stein gemeißelt (Allmendinger et al. 2011). Die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt kann kaum gelingen, soziale Folgekosten sind zu erwarten. Für eine dynamische Mitte (auch für ihr weiteres Wachstum) werden hier zunehmend Potenziale verschenkt. Wenn man sich heute in vielen Unternehmen Sorgen über den Fachkräftemangel macht, der wirtschaftliches Wachstum in Zukunft ernsthaft behindern könnte, so liegen genau hier die Wurzeln des Problems. Bildungsinstitutionen, die viele junge Menschen ohne schulische oder berufliche Abschlüsse ins Leben entlassen, werden ihrer Funktion als Rolltreppen des Aufstiegs nicht gerecht.
Die Flexibilisierung der Märkte und die neue Spaltung der Mitte
Schieflagen bei der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen sind die eine Seite, die Prekarisierung der Mitte und neue Unsicherheiten die andere. Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten einen massiven Umbau in Richtung Entsicherung erlebt. Er betrifft nicht allein Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und im Bereich der Sozialpolitik, sondern auch die Ebene der kommunalen Dienstleistungen und Versorgung. In den achtziger und
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