Lebenschancen
Arbeitsmarkt ambivalente, auf den ersten Blick oft widersprüchliche Entwicklungen: Auf der einen Seite wächst die Zahl der Erwerbspersonen, was vor allem mit der steigenden Erwerbsbeteiligung der Frauen zu tun hat; zugleich geht die Arbeitslosigkeit zurück, verursacht vor allem durch den demografischen Wandel. Auf der anderen Seite beobachten wir seit vielen Jahren eine massive Zunahme von Formen der atypischen Beschäftigung: Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, Befristungen, Leiharbeit und Ich- AG s. Ihr Anteil ist seit 1991 um 14 Prozent gestiegen und beträgt nunmehr fast ein Drittel aller Arbeitsverhältnisse. Es gibt also mehr Jobs, aber oft sind es prekäre Jobs, die nur unzureichende Sicherheit und geringe Einkommen versprechen. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt hat die Risiken zu den Beschäftigten verschoben. Unternehmen dagegen können sich vor allem über Befristungen und Leiharbeit am Markt »elastischer« aufstellen und ihren Personaleinsatz je nach Marktlage regulieren. Man sollte nicht unterschätzen, dass Prekarisierung und Entsicherung auch als Disziplinierungsstrategien eingesetzt werden: der statusunsichere Beschäftigte verausgabt sich mehr, lässt sich leichter führen und äußert weniger Widerspruch.
Starken Zuwachs gibt es bei den befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Bis in die neunziger Jahre hinein war ihr Anteil relativ stabil (Groß 2001). Von 1996 bis 2010 hat sich ihre Zahl jedoch von 1,3 auf 2,3 Millionen fast verdoppelt. Gemessen an 40 Millionen Erwerbspersonen mag sich das zunächst gering ausnehmen, betrachtet man allerdings nur die Neueinstellungen, so waren 2009 49 Prozent befristet, im Vergleich zu 32 Prozent
im Jahr 2001. Befristungen betreffen dabei vor allem junge und ältere Arbeitnehmer, also jene Personen, deren Potenzial die Unternehmen noch nicht wirklich einschätzen können oder deren Leistungskurve zu fallen droht. Gerade bei den Jungen haben solche Befristungen erhebliche Folgen für die weitere Lebens- oder Familienplanung, wobei »Planung« hier schon beinahe euphemistisch ist. Zudem erhalten befristet Beschäftigte in der Regel deutlich niedrigere Löhne, es drohen »Befristungsketten« (einmal befristet, immer befristet), die Aufstiegschancen sind deutlich limitiert (Diewald/Sille 2004).
Es ist interessant zu beobachten, dass das Instrument der Befristung nicht nur in der Privatwirtschaft, sondern auch im öffentlichen Dienst immer häufiger zur Anwendung kommt. Hier ist die Mauer zwischen befristet und unbefristet besonders hoch: Wer einmal drin ist, ist de facto unkündbar und kann im Hafen der Sicherheit ruhig ankern. Zwar sind grundlose Befristungen nur in einem engen Rahmen erlaubt, aber viele Behörden und öffentliche Arbeitgeber waren sehr erfinderisch bei den »sachlichen Befristungsgründen«. Rund zwei Drittel aller neuen Arbeitsverträge in diesem Bereich haben eine begrenzte Laufzeit (Hohendanner 2009). Und: Während im produzierenden Gewerbe fast zwei Drittel aller befristet Beschäftigten übernommen werden, trifft das im öffentlichen Dienst nur auf ein Viertel zu. An den Hochschulen ist die Befristung inzwischen zum wichtigsten Unterscheidungskriterium der Statusordnung geworden. Der wissenschaftliche Nachwuchs ist in der Regel auf Zeit angestellt. Hinzu kommt, dass die Höchstdauer der befristeten Beschäftigung auf zwölf Jahre festgesetzt wurde. Eigentlich wollte der Gesetzgeber die Nachwuchswissenschaftler auf diesem Weg schützen, die Regelung führt aber dazu, dass Menschen in der Mitte ihres Berufslebens plötzlich am Ende einer Sackgasse ankommen. Es geht nicht mehr nach vorn, nur noch zurück. Insgesamt zeigt sich, dass der öffentliche Dienst also längst nicht mehr der Hort des allumfassenden Schutzes ist
und das Ideal der stabilen und geordneten Arbeitswelt im öffentlichen Sektor nur noch für Teile der dort Beschäftigten die Realität darstellt. Zudem: Auch in diesem Bereich gibt es inzwischen das Phänomen der working poor , also der Menschen, die trotz Job unterhalb der Armutsgrenze bleiben.
Eine wesentliche Quelle von Unsicherheit sind weiterhin Restrukturierungsprozesse auf der Unternehmensebene: neue Eigentümer, Veränderungen des Marktumfelds, ein Wechsel der strategischen Ausrichtung, interne Reorganisation. Beschäftigte wissen oft nicht, wohin sich das eigene Unternehmen entwickelt, schon gar nicht, wie sich ihre eigene Beschäftigungssituation über die Zeit verändern wird. Sie mögen einen
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