Lebenschancen
Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung (2006). Friebe und Lobo schildern darin das Leben einer Klasse von Selbstständigen, die im Internetzeitalter den Traum vom autonomen Arbeiten verwirklichen. »Festanstellung?« – »Nein, danke!«, das ist ihr großes Thema. Mehr Autonomie ist ihnen wichtiger als Sicherheit, so dass man hier durchaus von »freiwilliger Flexibilisierung« sprechen kann (Janowitz 2006).
Statistisch lässt sich tatsächlich eine markante Zunahme der Selbstständigkeit feststellen. Mit dieser Kategorie katalogisiert das Statistische Bundesamt dabei eine sehr heterogene Gruppe: Unternehmer, Gewerbetreibende, Landwirte, Freiberufler, aber
auch »Hausgewerbetreibende und Zwischenmeister«. Ihr Volumen ist zwischen 1991 bis 2008 um etwa ein Drittel auf 4,1 Millionen Personen gewachsen (Bögenhold/Fachinger 2010). Die Selbstständigenquote liegt damit heute bei knapp über elf Prozent aller Erwerbstätigen. Ein genauerer Blick zeigt, dass die Mehrheit von ihnen »solo-selbstständig« ist. Der Zuwachs geht nicht auf Firmengründer zurück, die weitere Mitarbeiter beschäftigen, sondern auf diese Gruppe der Mikrounternehmer. Ihre Anzahl hat sich seit Anfang der neunziger Jahre verdoppelt (ebd.), sie tummeln sich hauptsächlich in den Bereichen Softwareentwicklung, IT , Medien- und Kulturarbeit, Werbung und Journalismus.
Diese Soloselbstständigen sind hochqualifiziert, meistens männlich, relativ jung (in der Gruppe der 30- bis 40-Jährigen ist ihr Anteil besonders hoch), sie erzielen unterdurchschnittliche und stark schwankende Einkommen (Manske 2007). Häufig folgen auf intensive Phasen mit Tag-, Nacht- und Wochenendarbeit sowie hohen Markterträgen Zeiten des Leerlaufs, in denen Erspartes aufgebraucht, die Unterstützung der Familie oder Hilfe vom Staat in Anspruch genommen wird. Letzteres wird im Gegensatz zur beruflichen Unabhängigkeit und zur gewonnenen Zeitsouveränität als anstrengend erlebt, weniger als Herausforderung und Chance. Gerade im Bereich der Medien und des freien Journalismus entsteht das sogenannte Medienprekariat. Seine Angehörigen sehnen sich zwar nicht unbedingt nach einer Festanstellung, empfinden es jedoch als Belastung, den Wechselfällen des Lebens mehr oder weniger ungeschützt ausgesetzt zu sein. Unsicherheit und Flexibilität stellen für diese Gruppe kein Genussmittel dar, eher ein notwendiges Übel des autonomen Berufslebens. Es handelt sich hier um »Prekarisierung auf hohem Niveau« (Manske 2007). Die Attraktivität des neuen Lebens- und Arbeitsmodells sinkt spätestens dann drastisch, wenn familiäre oder gesundheitliche Belastungen hinzutreten, etwa ein chronisch krankes Kind, ein arbeitsloser Part
ner, ein Pflegefall in der Familie. Typischerweise hört man dann die Klage, dass man schon früher auf eine Festanstellung hätte setzen sollen, weil diese doch mehr Schutz und Sicherheit verspricht.
Ohne Netz und doppelten Boden?
All diese Trends vollziehen sich vor dem Hintergrund einer weiteren, folgenreichen Entwicklung: des Um- und Rückbaus des Sozialstaats. Gerade die Mittelschicht wurde lange Zeit von den Politikern umworben und umsorgt, weshalb einige Autoren darauf hinweisen, die Krise des Wohlfahrtsstaats sei »gleichursprünglich auch eine Krise der Mittelschichten« (Lessenich 2009: 263). In der Vergangenheit waren wichtige Komponenten des Systems der sozialen Sicherheit zwar darauf ausgerichtet, sozialen Ausgleich vorzunehmen und Risiken zu kompensieren, aber es ging immer auch um eine Stabilisierung der Einkommen über den Lebensverlauf. Ein einmal auf dem Markt erreichter Lebensstandard sollte gesichert werden. Letztlich sind viele Transfers nicht im Sinne einer Umverteilung von oben nach unten zu verstehen, sondern als horizontale, intrabiografische Umverteilungen. Der Sparschwein-Sozialstaat dominierte den Robin-Hood-Sozialstaat. Dadurch wurden die Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt im System der sozialen Sicherheit weitgehend reproduziert (deutlich vor allem im Bereich der Renten und bei der Sicherung für Arbeitslose), wovon auch die Mittelschicht profitierte. Ein überschuldeter Staat kann aber, so die gängige Meinung, immer weniger Leistungen für seine Bürger bereitstellen. In den Kommentaren auf den Wirtschaftsseiten großer Tageszeitungen liest man immer wieder, dass der expansive Sozialstaat eine wesentliche Ursache der Staatsverschuldung sei. Die Bürger konsumierten mehr
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