Lebenschancen
Vermarktlichung und Wettbewerb bedeuten letztlich, dass ein einmal erreichter Status nicht auf Dauer gestellt werden kann und permanent verteidigt werden muss: »Ressourcen, Privilegien, Positionen und soziale Achtung werden leistungsabhängig immer wieder neu verteilt, die Sozialordnung wird dynamisiert, zeitstabile Zustände statischen Gleichgewichts pendeln sich kaum
mehr ein.« (Rosa 2006: 89) Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat die damit einhergehenden Erfahrungen der Unsicherheit und Ungewissheit einmal mit dem Begriff des drifts umschrieben (1998), als Zustand des Kontrollverlustes und des Dahintreibens. Der Mensch ist, so Sennett, auf Langfristigkeit und Verlässlichkeit angewiesen, doch diese sind im modernen, flexiblen Kapitalismus kaum noch gewährleistet. Deshalb hätten trotz eines relativ hohen Lebensstandards und einer gewissen Sicherheit viele das Gefühl, ihr Leben nicht mehr wirklich in der Hand zu haben: »Diese Angst ist sozusagen in ihre Arbeitsgeschichte eingebaut.« (Sennett 1998: 21)
Das ist eine sehr allgemeine Beschreibung, die auf die breite Gesellschaft zutrifft, wir können aber einzelne Aspekte einer mittelschichtspezifischen Verunsicherung ausmachen. Die amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich bietet in ihrem bereits 1989 erschienenen Buch Fear of Falling. The Inner Life of the Middle Class eine brillante Analyse der Statusängste, welche vor allem die professional middle class , also die gehobene Mittelschicht, plagen . Dazu rechnet sie all jene, deren sozioökonomischer Status von akademischer Bildung und Arbeit, und nicht (oder nur teilweise) vom Vermögen abhängt, also Manager und Wissenschaftler, Lehrer und Computerspezialisten, Anwälte und Versicherungsmakler. Diese Gruppe besitzt nach Ehrenreich ein besonderes Standesbewusstsein mit einer starken Orientierung nach oben und sucht gleichzeitig den Abstand zu den unteren Schichten. Zentrales Scharnier zur Statussicherung ist die Verbindung zwischen ihrem Humankapital und dem Arbeitsmarkt, weshalb ihr Status nicht auf Dauer gestellt werden kann. Ihr Wohlstand »verdankt sich permanenter Anstrengung und Anspannung« (Vogel 2011: 507), so dass sich ihre Situation von den oberen Lagen des »sorgenfreien Reichtums« (Groh-Samberg 2009) doch gravierend unterscheidet. Anders als Geldvermögen oder Immobilien kann Humankapital nicht gehortet, sondern muss immer wieder erneuert und auf dem Markt ange
boten werden. Die Mittelklassen sind daher abhängig von der Gängigkeit ihrer Qualifikation und den Wechselfällen des Marktes. Da ihre Eigentumswerte begrenzt sind, dienen sie vor allem als Rücklage, weniger als dauerhafte Einkommensquelle. Kommt es zu inflationärer Geldvermehrung oder sinken die Renditen, schlägt das in der Regel auf sehr grundlegende Lebensumstände durch: Sicherheit im Alter, Wohnqualität, Möglichkeiten, die eigenen Kinder zu unterstützen, Urlaubsreisen. Der Status der Mittelschichten ist nach dieser Lesart immer nur unvollständig geschützt und gegen Deklassierungen nicht immun. Mit einer zunehmenden Vermarktlichung sozialer Lagen wird dies noch offensichtlicher. Daher gerät die Mittelschicht dann unter Druck, und Statusangst wird ihr ständiger Begleiter.
In eine ähnliche Richtung gehen die Beobachtungen Dalton Conleys von der New York University, der auch die Aspekte der Substituierbarkeit und die Risiken der Entwertung von Bildungskapital hervorhebt. Er spricht von einer grassierenden »fraud anxiety« (Conley 2009), also der Angst, dass jemand entdecken könnte, dass wir gar nicht so viel leisten, wie wir vorgeben (oder wie wir uns einbilden), und dass man herausfinden könnte, wie leicht wir in der modernen Arbeitswelt zu ersetzen sind. Es ist die Angst davor, entwertet, überflüssig oder freigesetzt zu werden. Er gibt folgendes Beispiel: Das MIT in Boston und die Universität Stanford bieten Vorlesungen und Seminare nun auch online an, kostenfrei, Apple stellt neuerdings via iTunes U ebenfalls Lerninhalte im Internet zur Verfügung. Was wäre, wenn alle Studenten das nutzen und die bisherigen Lehrformen, bei denen Studierende und Professoren in einem Raum zusammenkommen, überflüssig würden? Was, wenn die Studenten überall im Land feststellten, dass die Kollegen vom MIT oder aus Stanford unterhaltsamere und bessere Veranstaltungen anbieten und sich eher dorthin klicken? Würde dann die eigene Position als akademischer Lehrer einer Uni in der Provinz in
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