Lebenschancen
interviewten, wies uns ein Abteilungsleiter einer Druckerei auf die Schwierigkeiten hin, auf die stößt, wer sich dauerhaft in der Mittelschicht einrichten will: »Von oben nach unten ist relativ schwer, aber von der Mitte nach unten, das kann sehr schnell gehen. So ein Ackermann fällt immer weich, aber ein Mittelverdiener, der plötzlich krank wird oder geschieden oder den Arbeitsplatz verliert, da ist die Gefahr sehr viel höher.«
Richard Wilkinson und Kate Pickett liefern in ihrem viel diskutierten (und nicht ganz unumstrittenen) Buch The Spirit Level. Why Equality is Better for Everyone (2009) eine Fülle von Daten, die belegen, dass Ungleichheit mit allerlei Missständen und Problemen einhergeht. Die Grundthese ist, dass eine Gesellschaft nur gedeihen kann, wenn die Ungleichheit begrenzt bleibt. Ungleichheit wirke sich nachteilig auf das Leben der Menschen aus, sie führe zu Einbußen an Wohlbefinden und unterminiere den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Kluft zwischen Reichen und Armen sei daher nicht nur eine moralisch bedauernswerte (oder ärgerliche) Erscheinung, sondern bringe etliche Nachteile mit sich, von denen alle (die Reichen, die Mittelschicht und die Armen) betroffen seien. Als Epidemiologen verweisen sie vor allem auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Ungleichheit und verschiedenen Indikatoren für die »Gesundheit einer Gesellschaft«. Gesundheit bzw. Krankheit definieren sie nicht nur individuell, sondern sie werfen auch einen Blick auf soziale Krankheitsherde. So kommen sie auf eine ganze Liste von Symptomen (soziale Desintegration, psychische Erkrankungen, geringe Lebenserwartung, verstopfte soziale Aufstiegskanäle, Bildungsarmut, Gewalt und Drogenkonsum), die in sehr ungleichen Gesellschaften typischerweise weiter verbreitet sind.
Der Mechanismus hinter diesem Zusammenhang lasse sich auf Statuskonkurrenz zurückführen: Größere Ungleichheit führt aus Sicht der Autoren dazu, dass Statuswettbewerb und -angst wachsen. Unter solchen Bedingungen werden Menschen misstrauischer, ängstlicher, sie greifen eher zu Drogen, leiden häufiger an Stresssymptomen und psychischen Krankheiten. Ungleichheit ist, wie der treffende englische Begriff nahelegt, corrosive , sie wirkt zersetzend und zerstörerisch. Wilkinson und Pickett folgern aus ihren Daten, dass das Problem fortgeschrittener Industriegesellschaften nicht darin bestehe, nicht reich genug (oder zu reich!) zu sein; vielmehr seien die Ungleichheiten heute einfach zu groß. Auch für den deutschen Fall gibt es Indizien, dass
die zunehmende subjektive Beschäftigungsunsicherheit mit der wachsenden Ungleichheit im Zusammenhang steht, dass Ungleichheit also Unsicherheit produziert (Erlinghagen 2010). Aus der Glücksforschung gibt es Hinweise, dass ungleiche Gesellschaften im Durchschnitt eine geringere Lebenszufriedenheit aufweisen (Alesina et al. 2004).
Vermutlich ist dieser Effekt auf die in ungleichen Gesellschaften sehr enge Verknüpfung der materiellen Ausstattung mit Fragen der Anerkennung und Zugehörigkeit zurückzuführen. In solchen Gesellschaften zählen Status, materieller Besitz und Einkommen in Bezug auf das subjektive Wohlbefinden, das Selbstbewusstsein und die Identität mehr als in relativ egalitären (Sennett/Cob 1993). Fast alles dreht sich dort um den Platz in der sozialen Hierarchie. Wir alle kennen sie: Die innere Armut von Menschen, die sich nur darüber definieren, was sie besitzen oder was sie im Wettbewerb erreicht haben. Haben und Sein hängen sehr eng zusammen. In Alltagsgesprächen unterhält man sich häufiger und ausführlich über Geld: darüber, wie viel man hat, wie man es verdient und ausgibt. Akkumulieren und Konsumieren sind die wichtigsten Koordinaten. Obwohl es vielen ökonomisch besser geht als jemals zuvor, werden sie immer nervöser, weil man im Vergleich zu den anderen nie genug hat. Dahrendorf hat in seinem immer noch sehr lesenswerten Buch Lebenschancen dargelegt, dass der Platz, die Zugehörigkeit und die Statussicherheit des Einzelnen eben nicht im »luftleeren Raum einer bloß ›optativen‹ Konkurrenz- oder Leistungsgesellschaft« entstehen (1979: 66), sondern dass es stabiler Bindungen (Ligaturen) bedarf, um Menschen sicher zu verankern.
Im Spiel der wachsenden Ungleichheit ist die Mitte als besonders gefährdet einzustufen: Sie besitzt anhaltend starke Aufstiegsaspirationen und argwöhnt gleichzeitig, sie könne von den »besseren Kreisen« dauerhaft abgehängt werden. Henrik
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