Lebenschancen
prinzipiell veränderbar an. Heute jedoch verbindet sich bis weit in die scheinbar gut etablierten Mittelklassen hinein eine allgegenwärtige Abstiegsgefahr mit faktischen Aufstiegsblockaden. Entfällt aber die Erfahrung der Teilhabe an sozialen Aufstiegsprozessen, verfestigt sich das innere Bild einer Klassenstruktur der Gesellschaft offenbar derart nachhaltig, dass sich die Bevölkerungsgruppen untereinander stärker denn je als völlig undurchlässig erleben.« (2008a: 37)
Eine solche Einschätzung der gesellschaftlichen Ordnung kann nachteilige Rückwirkungen auf den Leistungs- und Aufstiegswillen größerer gesellschaftlicher Gruppen haben. Dazu kommt: Wer den Eindruck hat, in einer Pfründegesellschaft zu leben, wird alles daran setzen, die eigenen Vorteile zu sichern; wer glaubt, dass unfair gespielt wird, neigt eher dazu, es mit den Regeln selbst nicht so genau zu nehmen.
Die Mittelschicht spielt bei diesen Veränderungen meines Erachtens eine ambivalente Rolle, weil auch ihr Verhältnis zum Leistungsparadigma gespalten bleibt: Einerseits hat sie die Philosophie der Leistungsgerechtigkeit besonders stark verinnerlicht und verteidigt dieses Prinzip; andererseits ist sie jedoch dafür bekannt, sich abzuschotten, sobald ihr Status bedroht ist. Lange Zeit galten klassische Mittelschichttugenden wie Pflichtbewusstsein und Leistungsbereitschaft zugleich als »Versprechen an die Angehörigen der Unterschicht, dass, wer sie übernehme, gute Chancen habe, sozial aufzusteigen« (Münkler 2010:
69). Rückt die Mitte zur eigenen Statussicherung von diesen Prinzipien ab, wie man es beispielsweise im Bildungsbereich beobachten kann, delegitimiert sie sich letztlich selbst.
Eine Gruppe von Ökonomen (Bjornskov et al. 2009) konnte zeigen, dass die Akzeptanz von Ungleichheit eng mit der Bewertung der Chancengleichheit zusammenhängt: In als offen und durchlässig wahrgenommenen Gesellschaften ist die Akzeptanz von Ungleichheiten recht groß. Ganz allgemein gilt: Wenn das Zustandekommen von Ungleichheit als fair erlebt wird, steigt die Toleranz für Ungleichverteilungen (Hopkins 2008). Hier drängt sich eine Querverbindung zu John Rawls (1975) liberaler Gerechtigkeitstheorie geradezu auf. Der amerikanische Philosoph fragte in einem berühmten Gedankenexperiment, für welche Grundsätze der Gerechtigkeit sich Menschen entscheiden würden, wenn sie hinter einem »Schleier des Nichtwissens« stünden, also keine Information darüber hätten, in welcher Position innerhalb einer imaginären Verteilungsordnung sie sich selbst wiederfinden würden und mit welchen Gaben oder Talenten sie ausgestattet wären. Rawls nimmt an, dass die Menschen sich in einer solchen Situation für zwei Prinzipien entscheiden würden. Zum einen würden sie sich darauf festlegen, dass jeder Bürger über die gleichen Grundfreiheiten verfügen muss. Zum anderen würden sich die Menschen im Hinblick auf die Legitimation sozialer Ungleichheit darauf einigen, dass erstens Ämter und Positionen, die mit Privilegien verbunden sind, auf der Grundlage von Chancengleichheit allen offen stehen müssen ( Prinzip der Chancengleichheit ) und dass zweitens soziale Ungleichheit nur dann legitim ist, wenn die am wenigsten Begünstigten davon profitieren ( Differenzprinzip ). Das Prinzip der Chancengleichheit hat dabei aus Rawls' Sicht Vorrang gegenüber dem Differenzprinzip. Das Differenzprinzip fragt nunmehr nicht danach, wie groß die Ungleichheit absolut ist, sondern in erster Linie danach, was sie für die unteren Gruppen bedeutet. Die Verteilungsregel weist Ungleichheiten dann als gerecht aus, wenn
sie die absolute Position der am schlechtesten Gestellten anheben. Nach Rawls wäre damit ein Zuwachs der Ungleichheit nur dann zu akzeptieren, wenn dabei die schwächeren Gruppen besser gestellt werden. Für die ökonomische Dynamik heißt das: Rawls geht nicht von einem automatischen Durchsickern wirtschaftlicher Gewinne zu den unteren Schichten aus, sondern fragt, was für die unteren Schichten wirklich herausspringt. Daran muss sich die Frage der Gerechtigkeit als Fairness messen lassen. Betrachtet man die skizzierten gesellschaftlichen Trends (das Davonziehen der Reichen an der Spitze der Hierarchie, die Stagnation in der Mitte und am unteren Ende der Sozialstruktur, die ungleichen Chancenverteilungen) vor dem Hintergrund von Rawls' theoretischen Überlegungen, so kann man eine Verletzung wichtiger Grundsätze der Gerechtigkeit erkennen. Und tatsächlich nehmen
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