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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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Ibsens Stück Hedda Gabler ist auf europäischen Bühnen immer noch ein Renner, weil es die Statusängste der Mittelschicht so
gekonnt seziert. Das Stück wurde zwar schon 1891 uraufgeführt, scheint aber aktueller denn je. Wichtigste Besuchergruppe, heute wie damals, ist die Mittelschicht. Die Handlung: Die Generalstochter Hedda Gabler heiratet den aufstrebenden, aber braven Historiker Jørgen Tesman, dem man eine Professur an der Universität versprochen hat. Mit dieser Aussicht auf eine materiell gesicherte bürgerliche Existenz kauft Tesman eine Villa und bietet seiner Frau einen anspruchsvollen Lebensstil. Einen anderen, eher exzentrischen Kandidaten, Ejlert Løvborg, hat Hedda Gabler verschmäht, weil er ihr finanziell kein attraktives Leben bieten konnte. Obwohl sie ihren Mann nicht liebt, glaubt sie, auf das richtige Pferd gesetzt zu haben, immerhin winken Wohlstand und Sicherheit. Als Løvborg mit einem Aufsehen erregenden Buch zum direkten Konkurrenten ihres Mannes um die schon fest eingeplante Professur wird, befällt Hedda Panik. Der sicher geglaubte Wohlstand hängt plötzlich am seidenen Faden, die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben zerrinnt. Zwischen Aufstiegsdenken und Abstiegsangst machen sich Manipulation, Lügen und Selbstzerstörung breit. Dass sich heute immer noch so viele Zuschauer von den Panikattacken Hedda Gablers fesseln lassen und das Stück seine Kraft entfaltet, könnte daran liegen, dass ihnen solche Turbulenzen in der scheinbar beruhigten Zone der Mitte nicht fremd sind.
    Im Kontext wachsender Ungleichheit und neuer Gefährdungen ist der Mittelschichtstatus nicht nur ökonomisch, sondern auch symbolisch eine wichtige Stütze. Dort zu ankern, heißt auch, dazuzugehören, Identität und Anerkennung zu schöpfen, Kinder und Familie als Teil der Mehrheit zu begreifen. Klafft die Ungleichheitsschere auseinander, wird dieser Zusammenhang angegriffen. Die Mittelschicht hat sich nie als einheitliches Kollektiv definiert, doch wenn die Ungleichheit wächst, werden die internen Bande zusätzlich geschwächt. Man positioniert sich eher individuell denn als Gruppe. Die Definitionsmacht rein monetärer Statusaspekte nimmt zu. Das beinhaltet auch ein Um
schalten von intrinsischer auf extrinsische Motivation. So verwundert es kaum, dass die Höhe der Belohnung (also das Einkommen) oft als Ausdruck eigener Leistungsfähigkeit oder sogar des eigenen Werts angesehen wird. Wer ein hohes Jahreseinkommen hat, identifiziert sich gern mit dieser Kennziffer, obwohl Glücksforscher darauf hinweisen, dass Einkommenszuwächse in den oberen Etagen die Zufriedenheit kaum steigern. Umgekehrt gilt: Es ist gefährlicher, Arbeit und Einkommen zu verlieren, wenn daran alles hängt und man tief fallen kann. Mit dem Zuwachs an variablen Gehaltsanteilen (Boni, Tantiemen etc.) wurden die Gehälter zuletzt zudem stärker an die Marktlage und die individuelle Wettbewerbsposition gekoppelt. Honoriert werden nicht länger in erster Linie erworbene Qualifikationen, der einmal erreichte Status oder die langfristige Treue zu einem Unternehmen (kurz: relativ stabile Faktoren), sondern die Erfüllung der gerade geltenden Erfolgskriterien.
    Die Abstände nach oben und der Tunnel-Effekt
    Unzufriedenheit kann auch entstehen, wenn wir uns im Vergleich mit anderen für benachteiligt halten. Was wir als erstrebenswert und angemessen betrachten, hängt immer auch davon ab, was andere haben. Nun könnte man sagen, dass dies ein Ausdruck einer universellen und durchaus kritikwürdigen Neidkultur ist. Schon in der Bibel gelten Neid und Missgunst als Sünden. Es gibt Konsumsucht, die neidanfällig machen kann, es gibt überzogenes Gleichheitsstreben, das alle Unterschiede ausmerzen will. Es gibt zudem aber ein Gefühl, das Ökonomen mit dem schönen Begriff des » justified envy «, des gerechtfertigten Neids, bezeichnen. Danach kann Neid auch eine Reaktion auf eklatante Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Gütern und Positionen sein. So schreibt John Rawls:

    »Manchmal sind die neiderregenden Umstände so zwingend, dass man, so wie Menschen nun einmal sind, von niemandem vernünftigerweise verlangen kann, seine Hassgefühle zu überwinden. […] Man kann es geradezu moralisch übelnehmen, dass man neidisch gemacht wird, wenn nämlich die Gesellschaft so große Ungleichheit […] zulässt, dass das nur die Selbstachtung herabsetzen kann.« (1975: 579)

    Viele moderne Gerechtigkeitstheorien basieren auf dem Versuch, sich dem Ideal der

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