Lebenschancen
stellt […] weniger ein Problem der Bezieher geringerer Einkommen, als vielmehr der Mittelschicht dar.« (ebd.: 235)
Das kann Frustration auslösen. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Alfred O. Hirschman spricht in diesem Zusammenhang von einem »Tunnel-Effekt« und illustriert den Mechanismus anhand eines Gedankenexperiments (1973): Stellen Sie sich vor, Sie fahren durch einen zweispurigen Tunnel, beide Spuren weisen in dieselbe Richtung. Der Verkehr staut sich, alle Fahrzeuge kommen ins Stocken. Sie fühlen sich hilflos, müssen warten. Plötzlich setzen sich die Autos auf der anderen Spur in Bewegung. Sie schöpfen Hoffnung, immerhin scheint der Stau sich aufzulösen. Doch auf Ihrer Spur geht es kein Stückchen voran, minutenlang, und Sie haben keine Chance, die Fahrbahn zu wechseln. Die Verärgerung wächst, Sie sind sauer auf die Menschen, die auf der anderen Spur an Ihnen vorbeiziehen. Übertragen auf ganze Gesellschaften bedeutet das, dass neue Ungleichheiten zunächst durchaus toleriert werden. Man vertraut darauf, dass sich der Abstand wieder verringert, dass man bald auch selbst profitiert, insgesamt scheint es ja aufwärts zu gehen.
Werden solche Hoffnungen dann allerdings enttäuscht, sind Frust und Protest vorprogrammiert.
Das Magazin der New York Times hat vor einiger Zeit eine aufschlussreiche Umfrage durchgeführt. New Yorker Bürger wurden nach ihrem Verhältnis zu Reichtum und wohlhabenden Menschen befragt (Traub 2007). Es zeigte sich, dass die Vorstellung darüber, ab wann jemand als reich gelten kann, eng mit der Postleitzahl und dem Wohlstand des jeweiligen Viertels zusammenhängt. Die reichsten New Yorker wohnen in einigen wenigen Straßen von Manhattan. Während Befragte aus den Vorstädten angaben, ab einem Jahreseinkommen von 200 000 Dollar könne man als reich gelten, nannten in Manhattan 40 Prozent der Teilnehmer die Zahl 500 000 Dollar. Ein Detail ist besonders aussagekräftig: Von den Menschen mit mehr als 200 000 Dollar Jahreseinkommen gaben doppelt so viele an, der Anblick Reicher vermittle ihnen das Gefühl, arm zu sein. Intuitiv hätte man wohl angenommen, dass der Anblick von Reichtum insbesondere Armen die eigene Lage schmerzlich vor Augen führt. Wie lässt sich dieser Befund also erklären? Ganz einfach mit dem Umstand, dass auch relativ wohlhabende Personen sich mit anderen Gruppen vergleichen, und zwar besonders gern mit Menschen, denen es offensichtlich noch besser geht.
Manche Ökonomen sehen sogar einen Zusammenhang zwischen der wachsenden Ungleichheit und der Instabilität des Finanz- und Kreditsystems. Die Entstehung einer oligarchischen Schicht der Superreichen habe in der Gesellschaft insgesamt Begehrlichkeiten geweckt und die Menschen dazu veranlasst, sich über die Maßen zu verschulden, um dem Lebens- und Konsumstil der oberen Zehntausend nachzueifern. Robert H. Frank spricht an dieser Stelle von »Ausgaben-« oder »Konsumkaskaden« (Frank 2007): Menschen auf einer bestimmten Stufe der sozialen Hierarchie ahmen jeweils diejenigen auf der nächst höheren nach, das Ganze vollzieht sich kaskadenartig von den Donald Trumps und Bill Gates' bis ganz nach unten.
In der Praxis bedeutet das dann beispielsweise massive Kreditkartenschulden, und auch die Hypothekenkrise in den USA ist auf den beschriebenen Mechanismus zurückzuführen. Die Menschen kauften sich, sagen wir, in Detroit ein Haus für 280 000 Dollar und finanzierten es zu 80 bis 100 Prozent über Kredite. Zwei Jahre später sollte es dann ein neues Auto oder eine luxuriöse Reise sein. Da der Immobilienmarkt einen vermeintlich niemals endenden Boom erlebte, konnte man das Eigenheim nun auf 400 000 Dollar schätzen lassen und bekam über eine weitere Hypothek frisches Geld.
Die Mittelschicht und das abgehängte Prekariat
Die Mitte ist, ich habe bereits darauf hingewiesen, eine Zwischenschicht. Ihre Angehörigen vergleichen sich gern mit den Wohlhabenden, eifern ihnen nach oder sind angesichts des zunehmenden Gefälles frustriert. Doch wie ist es um das Verhältnis zu den sozialen Lagen am unteren Ende der sozialen Hierarchie bestellt? Viele Mittelschichtler sind ob der wachsenden Ungleichheit besorgt, allerdings heißt das nicht automatisch, dass helfende Hände ausgestreckt werden, um andere Menschen auf dieselbe Stufe zu hieven. Tatsächlich lässt sich nicht selten ein Wunsch nach gesellschaftlicher Distanzierung erkennen (Ehrenreich 1989). Die Mitte, die, objektiv betrachtet, materiell und was die
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