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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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Lebenschancen betrifft, über einen Vorsprung verfügt, tendiert dazu, sich nach unten abzuschotten. Menschen aus einkommensschwachen und – wie es mittlerweile häufig heißt – »bildungsfernen« Schichten fällt es immer schwerer, den Anschluss zu halten. Es hat den Anschein, als würden die Strickleitern der Integration hochgezogen. Die gesellschaftliche Landschaft wirkt parzelliert, Sondermilieus bilden sich heraus.
    Vor ein paar Jahren erregte eine Studie der SPD -nahen Friedrich-Ebert-Stiftung große Aufmerksamkeit (Neugebauer 2007),
in der die Bevölkerung nach Bildung, Einkommen, aber auch nach Einstellungen neu kartografiert wurde. Die Forscher hatten eine Gruppe entdeckt, über die bald heftig diskutiert werden sollte: das »abgehängte Prekariat« bzw. die »neue Unterschicht«. Zieht man objektive Variablen heran, handelt es sich dabei um Menschen mit niedriger formaler Bildung und geringem oder gar keinem Einkommen. Subjektiv empfinden sie ihre Lebensumstände als unbefriedigend, sie haben den Glauben an die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs aufgegeben, es dominieren Gefühle des Abgehängt-Seins, der Exklusion, Resignation und Bedeutungslosigkeit.
    Das öffentliche Zerrbild, das von den Angehörigen der »neuen Unterschicht« gezeichnet wird, sieht in etwa so aus: Sie sitzen im Jogginganzug mit Bier und Chips vor dem Fernseher (konsumieren also das sogenannte »Unterschichtenfernsehen«), verlassen das Haus allenfalls, um Nachschub an Essen und Getränken zu holen, und kennen alle Kniffe, wenn es um den Anspruch auf Stütze geht. Vom bürgerlichen Ideal des tugendhaften und fleißigen Arbeitnehmers sind sie denkbar weit entfernt.
    Jenseits solcher Klischees erleben wir aber tatsächlich wichtige Veränderungen: Es gibt eine zunehmende Bedeutung physiognomischer Zeichen, an denen sich Milieu und Status ablesen lassen (Bude 2008). Ein 50-Jähriger mit perfekt präparierter, weiß strahlender Zahnleiste ist offenkundig so wohlhabend, dass er in sein Erscheinungsbild investieren kann. Arme Menschen erkennt man hingegen immer häufiger durch einen kurzen Blick auf ihr Gebiss. Zahnverfall wird zum Stigma der Unterschicht, für ihren Nachwuchs kursiert bereits das hässliche, abwertende Wort »Karieskind«. Auch schmutzige Fingernägel und fahle Haut können zu sozialen Zeichen werden. Man fühlt sich an ferne Länder und längst vergangene Zeiten erinnert, der Soziologe Sighard Neckel spricht in diesem Zusammenhang vom »inneren Ausland« (2008a: 23).
    Insgesamt schwinden die Berührungspunkte zwischen den
Milieus, die Entfremdung schreitet voran. Diese Abschottung wird auch durch veränderte Muster der Partnerwahl verstärkt: Heirateten Chefs früher ihre Sekretärinnen und Ärzte ihre Sprechstundenhilfen über Schichtgrenzen hinweg, lässt sich heute ein Trend zur Bildungshomogamie beobachten. Immer mehr Paare haben einen ähnlichen Bildungs- und Sozialstatus, wodurch die Gelegenheiten seltener werden, bei denen man andere Milieus kennenlernt und versteht, wie sie ticken und was sie bewegt. Im Grunde entstehen auf diese Weise jene Parallelgesellschaften, die in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund gerade vermieden werden sollen. Angehörige unterschiedlicher Schichten treffen sich immer seltener im privaten Kontext, man begegnet sich allenfalls in Funktionsrollen: Putzfrauen, Hausmeister oder Friseure auf der einen, Ärzte, Richter oder Berufspolitiker auf der anderen Seite des sozialen Grabens. Nähe wird dabei oft nur noch simuliert. Man erkundigt sich nach der Familie, tauscht Nettigkeiten aus, Kontakte und Gespräche außerhalb dieses vordefinierten Korridors kommen allerdings nicht zustande. Diese Entfremdung der sozialen Schichten voneinander kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Ralf Dahrendorf warf bereits in den sechziger Jahren am Beispiel der deutschen Richter die Frage auf, was es bedeutet, »wenn die eine Hälfte der Gesellschaft über die ihr unbekannte andere Hälfte zu urteilen befugt ist« (1961: 195). Diese Frage lässt sich auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen: Man bildet sich klischeehafte Meinungen, weiß aber im Grunde wenig voneinander. Man redet übereinander, seltener miteinander. Damit nimmt die Wahrscheinlichkeit für Animositäten und Missverständnisse zu.

4. Die Mühen der Selbstbehauptung
    Ein Bonmot von Karl Valentin bringt die derzeitige Stimmung der Mittelschicht treffend auf den Punkt: »Die Zukunft war früher auch besser.« Im Blick zurück wirkt vieles

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