Lebenschancen
idyllischer, weniger stressig, solidarischer. Mit der Trias aus kollektivem Aufstieg, Prosperitätsglauben und dem Versprechen der Sicherheit hatten die Menschen in den Nachkriegsjahrzehnten ein Koordinatensystem, an dem sie ihre Existenz ausrichten konnten. Es gab Leitplanken, »die einen über die individuelle Lebenszeit hinaus beständigen und verlässlichen Rahmen suggerierten« (Bauman 2009: 60). Doch kaum gerät dieser Rahmen ins Schwanken, kehrt Unruhe ein. Die Wirtschafts- und Finanzkrise, das wackelnde Haus Europa, die Symptome einer zunehmenden Unregierbarkeit sind wichtige Dammbrüche, die die Inseln der Wohlbehütetheit überspülen. Was für das gesellschaftliche Ganze gilt, findet sich auch im Privaten: Arbeitswelten werden flexibler, Partnerschaften sind nicht mehr so stabil wie früher, die Mobilitätsanforderungen nehmen zu, die Institutionen der sozialen Sicherheit befinden sich im permanenten Wandel. Biografische Entscheidungen waren schon immer folgenreich, aber sie werden heute immer komplexer, oft sind die Wirkungen unklar und die Erträge kaum zu kalkulieren.
Wie reagieren Menschen in einer solchen Situation? Welche Brandmauern ziehen sie ein, um sich gegen die neue Verunsicherung abzuschotten? Wo regieren Schockstarre und Resignation, wo Fatalismus, wo Widerstand? Gibt es auch risk taker , also Spieler, Hasardeure, die solche Risiken als Chance begreifen? Welche Formen nimmt der Wettbewerb um rarer werdende Lebenschancen an? Welche Muster der biografischen Selbststeuerung unter Bedingungen der Kontingenz lassen sich erkennen? In diesem Kapitel richten wir unsere Beobachtungsapparatur auf einige exemplarische Bereiche, in denen die Angehörigen der
Mittelschicht verstärkte Bemühungen zur Statussicherung und zur Abwehr von Risiken erkennen lassen: Vorsorge, Bildung, Partnerwahl, Wohnen, Mobilität. Wir werden dabei nicht auf die eine, klar erkennbare Master-Strategie stoßen, sondern eher auf eine kaum zu überblickende Vielfalt mikrosozialer Bemühungen. Sozialwissenschaftler und Psychologen bezeichnen solche Formen des Bewältigungsverhaltens auch als Coping (von engl. to cope , zurechtkommen).
Praktiken des Coping
Die deutsche Nachkriegsgesellschaft war lange Zeit so etwas wie eine »Probieranstalt mit gebremste[m] Risiko« (Hondrich 2001: 23). Es gab einen recht verlässlichen institutionellen Rahmen, der sich über die individuellen Lebensläufe wölbte und ein Gefühl der Dauerhaftigkeit und Stabilität vermittelte. Zwar war der Markt bereits damals die zentrale Instanz, wo es um die Verteilung von Wohlstand und Chancen ging, doch für den Fall des Scheiterns, des Versagens oder von Schicksalsschlägen stürzten die Menschen nicht ins Bodenlose, sie fielen in ein dicht geknüpftes Netz der sozialen Sicherung und wurden mit staatlichen Transferleistungen versorgt.
Mittlerweile ist auf dem gesellschaftlichen Parkett einiges ins Rutschen gekommen, die Menschen finden zunehmend instabile und ungewisse Handlungsbedingungen vor. Viele beschleicht die dunkle Ahnung, das »Festhalten am erlernten Beruf, die lokale Verwurzelung und die langfristige Bindung […] [könne] zum Merkmal typischer ›Verlierer‹« werden (Neckel 2006: 368). Damit wachsen natürlich der Anpassungsdruck und die Bereitschaft, Veränderungen zu akzeptieren oder selbst anzustoßen. Das Ende der DDR bietet ein Lehrstück für den Umgang mit neuen Unsicherheiten und Vermarktlichungsschocks. Der »Zusammenbruch« der DDR war ein Verunsicherungsbeben von his
torischem Ausmaß – und mit drastischen sozialen Konsequenzen: Es kam zu einer »demografischen Revolution«, gekennzeichnet durch einen fast vollständigen Stillstand der Geburten und Eheschließungen, viele erlebten eine Deklassierung im Beruf, die Menschen wanderten massenhaft ab, ländliche Regionen an der Peripherie verödeten.
Früher, in traditionelleren, weniger aufgeklärten Gesellschaften, hätte man in Bezug auf solche Ereignisse vermutlich von Schicksal gesprochen, von höheren, undurchsichtigen Mächten, vor denen es kein Entrinnen gibt. Heute hingegen rechnen wir uns Scheitern und Versagen zunehmend selbst zu, Biografien gelten als gemacht und beeinflussbar. Von den Einzelnen wird folgerichtig verlangt, risikobewusst zu sein und vorausschauend zu handeln. Wieder stoßen wir auf das bereits beschriebene Paradox: Wir kennen die Zukunft nicht, sollen aber permanent folgenreiche Entscheidungen treffen. Also imaginieren wir mögliche Zukünfte, die
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