Lebenschancen
wiederum unser Handeln in der Gegenwart beeinflussen. Wir müssen uns zwischen Alternativen entscheiden, wissen aber nicht, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese eintreffen werden. Der »Schleier des Nichtwissens« wird immer dichter – und dennoch müssen wir agieren und Dinge erledigen.
Auf genau solche Konstellationen, in denen wir keinem Masterplan folgen können, sondern irgendwie klarkommen müssen, zielt der Begriff des Coping (Schimank 2011a). Wir handeln, wissen aber oft nicht, mit welchem langfristigen Ertrag. Wir improvisieren, probieren, frickeln und fummeln, suchen (und finden) Nebenwege, Seitenpfade, Hintertüren. Der Soziologe Uwe Schimank bezeichnet solche eher reaktiven Mikrostrategien als »muddling through« und beschreibt dieses Sich-Durchwursteln folgendermaßen:
»Die Akteure hängen […] kaum noch an ihren Entscheidungen. Sie kalkulieren zum einen von vornherein ein, dass fast alles, was sie tun, nicht bloß mehrfach nachjustiert, sondern gar nicht so sel
ten nach kürzester Zeit völlig auf den Kopf gestellt werden muss. Zum anderen kultivieren sie notgedrungen Prinzipienlosigkeit: ›Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern!‹ Sie bleiben offen für – angenehme wie unangenehme – situative Überraschungen, um jeweils, wie es so schön heißt, das Beste daraus machen zu können oder zumindest zu versuchen, das Schlimmste zu verhindern.« (2011b: 22)
Auf der kollektiven Ebene, in der großen Politik haben wir uns an solche Formen des kurzfristigen, situativen Handelns längst gewöhnt: Ob Atomausstieg oder Abschaffung der Wehrpflicht – wenn das Meinungsklima es erfordert, werden Tabus gebrochen und jahrzehntealte Markenkerne entsorgt. Solche Strategien sind typisch für unruhige Zeiten und volatile Gelegenheits- und Aufmerksamkeitsmärkte. Uwe Schimank (2002) zieht eine Analogie zum Flipperspiel, bei dem der Spieler blitzschnell auf die Zufälligkeiten der Physik reagieren muss: Ist die Kugel einmal im Spiel, gibt es kaum noch Verschnaufpausen. Man fingert nervös an den Tasten herum, damit die Kugel nicht punktearm verloren geht. Dabei ist kein Raum für langfristige Strategien und das berühmt-berüchtigte proaktive Handeln, es geht eher um eine hektische Abwehrschlacht, bei der man wie »im Zeitraffer genau jenes Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffnung und Enttäuschung [durchlebt], die auch die Dramatik biographischer Selbststeuerung ausmacht« (Schimank 2002: 254). Ad-hocismus und das permanente Lauern auf sich überraschend bietende Gelegenheiten sind in unsicheren Zeiten keine untypischen Handlungsmuster.
Was sagt uns das? Sind Chaosqualifikation und Improvisationsvermögen die neuen Leitsterne erfolgreicher Selbstbehauptung? Oder geht es doch eher und vor allem darum, das eigene Leben langfristig zu planen? Auch das könnte schließlich eine probate Strategie sein, um die Zone der Unsicherheit zu verlassen. Immerhin gibt es sie ja noch, die kontinuierlichen, durchgeschriebenen Lebensdrehbücher mit ihren gleichsam program
mierten Stationen: Schule, Auszug aus dem Elternhaus, Studium, erster Job, Partnerschaft, eigene Kinder, Beförderung, Abteilungsleiter. Wir alle kennen Beispiele für schnelle, bruchlose Karrieren, die gedeihen wie eine im Gewächshaus gezüchtete Pflanze, stoßen bei Klassentreffen oder auf Partys auf Menschen, die immer genau zu wissen scheinen, was sie tun müssen, um das Leben erfolgreich zu meistern. Auch solche Formen der vermeintlich starken Selbstprogrammierung kann man als Coping verstehen, als Reaktion auf wachsende Unwägbarkeiten.
Tatsächlich fordert uns die flexible Marktgesellschaft mit ihrem Zentralthema der individuellen Autonomie permanent dazu auf, uns als kompetent, dynamisch und wissend zu inszenieren (Ehrenberg 2011). Der entsprechende Persönlichkeitstypus wird bei allen erdenklichen Gelegenheiten angepriesen, ausbuchstabiert und gefordert, bei Elternabenden, Mitarbeiter- und Rekrutierungsgesprächen, während Sitzungen beim Psychotherapeuten oder in Kursen der Arbeitsagentur: Immer geht es um eine Steigerung der sogenannten »Selbststeuerungsfähigkeit«. Psychologen sprechen auch von »Selbstwirksamkeitserwartungen« ( perceived self-efficacy ) oder »Kontrollüberzeugungen« und meinen damit, dass eine Person glaubt, die Ereignisse in ihrem Leben beeinflussen zu können. Bin ich der Autor meiner Biografie? Ziehen andere die Strippen? Hängt immer alles von den Umständen ab?
In gewissem Sinne verhält es sich mit den
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