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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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Sozialstatus besitzt und überzeugt ist, recht gut für das Alter vorgesorgt zu haben, ist ihre Risikoaversion extrem hoch. Da hätten wir dann also jene »verunsicherten Gesicherten«, die manchmal als mittelschichttypisch hingestellt werden. Sie haben ihre Handtücher am Pool ausgelegt und sind argwöhnisch darauf bedacht, dass niemand ihre Kreise stört. Diese Mischung aus Saturiertheit und Risikoaversion, ein Konservatismus, bei dem es um Besitzstandwahrung geht, ist es wohl, auf der das Spiel mit den Ängsten aufsitzt. Wenn Zuwanderung also nicht nur als Multikulti-Ideologie und »kulturelle Selbstaufgabe«, sondern zusätzlich auch als Verlust an nationaler Leistungsfähigkeit, als Angriff auf die kollektive Intelligenz eines Landes angeprangert werden kann, sind Vorbehalten Tür und Tor geöffnet.
    Die Selbstverteidigung der Mitte
    Es ist natürlich zu einfach, der Mitte ganz pauschal eine Mentalität der sozialen Kälte zu unterstellen. Wie gesagt: Zwar wünscht sich eine übergroße Mehrheit der Mittelschichtangehörigen stärkeren sozialen Zusammenhalt, allerdings glaubt nur eine Minderheit, dass die Menschen in der Not tatsächlich enger zusammenstehen. Diese Diskrepanz zwischen Wunsch und (wahrgenommener) Wirklichkeit bringt viele Menschen zu einer fatalen Entscheidung: Sie stufen die solidarischen Werte zurück, denken oft mehr an die eigenen Interessen als an das Gemeinwohl. Wer glaubt, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Solidarität auf der Strecke bleibt, fühlt sich nicht selten auf verlorenem Posten. Die Solidarität wird nicht im großen Stil oder mit einem
Paukenschlag aufgekündigt, wir haben es vielmehr mit den Folgen vieler individueller Entscheidungen zu tun, die im Einzelfall durchaus rational und gut gemeint sein können. Ein gutes Beispiel ist hier die von der schwarz-grünen Landesregierung initiierte Hamburger Bildungsreform im Jahr 2010: Am Anfang stand dabei die Diagnose, dass jedes dritte Kind in Hamburg im Alter von 15 Jahren nicht ausreichend lesen und schreiben kann. Die Chance eines Kindes aus einem Akademikerhaushalt, auf ein Gymnasium zu wechseln, ist viermal höher als bei einem Kind aus einer Arbeiterfamilie. Die Idee der grünen Schulsenatorin Christa Goetsch zielte darauf, dass alle Kinder bis zur sechsten Klasse gemeinsam lernen und das dreigliedrige Schulsystem abgeschafft werden sollte. Man wollte dadurch zu viele Brüche in der Bildungsbiografie der Kinder verhindern und die frühe Sortierung auf unterschiedliche Schultypen aufschieben. Konzipiert wurde die Reform nach dem Vorbild Finnlands – immerhin PISA -Spitzenreiter und weithin bewundertes Vorbild im Bereich innovativer Bildungspolitik. Die Idee, künftig alle Schüler von Klasse 1 bis 6 in einer Schule gemeinsam lernen zu lassen, fand erbitterte Gegner unter vielen Hamburger Eltern aus der gehobenen Mittelschicht. Sie liefen gegen die Reformpläne Sturm. Die vom Rechtsanwalt Walter Scheuerl initiierte und ironischerweise »Wir wollen lernen!« genannte Bürgerinitiative sah die Hamburger Gymnasien und deren spezifisches Profil gefährdet. Mit der Einführung der Primarschule würden die Kinder zwei Jahre verlieren. Die Ängste vor einer Schwächung des Gymnasiums ergaben sich vor allem durch die veränderte soziale Mischung der Klassen in den Jahren des verlängerten gemeinsamen Lernens. Heinz Bude hat die Verteidigung des Gymnasiums als »Bildungsprotektionismus« bezeichnet, weil das Mittelschichtkind auf dem Gymnasium eben »mit Kindern von Eltern in Berührung kommt, die wissen, was die Stunde geschlagen hat, die leistungsbereit, sozial engagiert und zivilgesellschaftlich eingebunden sind, bei denen also im sozialen
Sinne kein Unterschied zu einem selbst besteht« (2011: 12). Was für bildungsferne Kinder offensichtlich ein Plus sein kann, birgt für die bildungsbewussten Mittelschichten die Gefahr der Angleichung nach unten, evoziert Nivellierungsängste. »Nur Elite schafft Profite«, plakatierte die FDP ökonomiefixiert gegen die Einheitsschule. Die Hamburger kippten die Schulreform dann per Volksentscheid. Die Eltern vieler bildungsprivilegierter Kinder atmeten auf, auch wenn einige unter ihnen sicher ahnten, dass sie damit die Nachteile von Kindern aus weniger begüterten Haushalten zementierten.
    Dem aufstiegsorientierten Teil der Mittelschicht gilt materieller und sozialer Erfolg vor allem als ein Resultat individueller Anstrengungen, einer Investition in das Selbst, und daher sollen auch die

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