Lebenschancen
können. Sie muss die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe und Aufstieg bieten.« (Marx 2011: 3)
Der offene Charakter eines Begriffes kann allerdings auch ein Nachteil sein. Das gilt beispielsweise, wenn darunter ganz unterschiedliche Dinge verstanden werden oder der Begriff zu einer leeren Hülse verkommt. Um es noch einmal zu betonen: Beim Lebenschancen-Ansatz geht es um gesellschaftlich bereitgestellte Möglichkeiten individueller Entfaltung. Menschen sollen sich anhand ihrer Ziele und Wünsche verwirklichen und entwickeln können. Lebenschancen sind mehr als Behaglichkeit, Glück und Wohlbefinden, mehr als ein Ist-Zustand, sondern beziehen sich auf Potenziale und auf die Horizonte der Entwicklung in einem gesellschaftlichen Kontext. Menschen sollen die Möglichkeit haben, aus ihren Anlagen, Talenten und Neigungen etwas zu ma
chen. Wie gesagt: Wer von Lebenschancen spricht, stellt damit gleichzeitig die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen. So gesehen sind Lebenschancen das »Gegenteil von Todesfallen« (Ralf Dahrendorf), also das Gegenteil von Bildungsarmut, dauerhafter Ausgrenzung und Deprivation. Einem »Adel der Chancen« (Forst 2005: 24) darf keine Mehrheit mit beschränkten Optionen gegenüberstehen.
Lebenschancenpolitik – was ist das?
»Politik der Lebenschancen« bedeutet, dass die Gesellschaft ohne falschen Paternalismus dafür sorgen muss, dass möglichst alle Menschen in die Lage versetzt werden, ihr Leben autonom erfolgreich zu gestalten. Dazu ist zunächst eine robuste Grundsicherung notwendig, die verhindert, dass Risiken in Marginalisierung und Mutlosigkeit umschlagen. Außerdem gilt es sicherzustellen, dass Aufstiegskanäle offen bleiben und Phasen des Scheiterns oder des Abstiegs sich nicht als Einbahnstraßen erweisen. In diesem Bereich sind alle gefragt: Bildungspolitiker, Kommunen, sozialpolitische Institutionen, Schulen und Universitäten, Unternehmen und Personalabteilungen. Bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter sollten Menschen, deren Lebensläufe Umwege und Brüche verzeichnen, genauso gute Chancen haben wie Bewerber mit Teflonkarrieren. Wer einmal mit amerikanischen Kollegen in einer Auswahlkommission für eine Professur oder ein Stipendium gesessen hat, weiß, wie anders sie ticken: Oft ist man überrascht darüber, dass sie gerade die Kandidaten gut bewerten, die auf den ersten Blick keine sonderlich guten Karten zu haben scheinen. »Schauen Sie mal«, heißt es etwa, »der hat es geschafft, einen akademischen Abschluss zu erwerben, obwohl er erst mit zwölf in die USA gekommen ist und die Sprache nicht konnte.« Oder: »Dieser Bewerber hat drei Jahre seinen kranken Vater betreut und dennoch einen guten
Abschluss gemacht.« Blickt man so auf Biografien, kommt es nicht nur auf gute Noten an, sondern auch darauf, dass ein Werdegang Lebensenergie und Motivation erkennen lässt.
Der Bildungsbereich stellt natürlich das wichtigste »Reich der Chancen« dar. Bildungspolitiker und Lehrer sind soziale Fluglotsen: Sie entscheiden maßgeblich, wer abheben darf und wer am Boden bleiben muss. Vor allem Schulen können daher Orte der »Schicksalskorrektur« (Heribert Prantl) sein. Der Begriff der »Bildungsarmut« (Allmendinger 1999) ist inzwischen ein ganz selbstverständlicher Bestandteil unseres Wortschatzes. »Bildungsarm« nennen wir jene, die keinen formalen Bildungsabschluss oder geringe kognitive Kompetenzen aufweisen. Seit den PISA -Studien haben wir nicht nur gesicherte Erkenntnisse zum verbreiteten Mangel an wichtigen schulischen Fähigkeiten, sondern auch zum großen Gefälle zwischen Schülergruppen und Schultypen. Und wir wissen um den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Wie materielle Armut ist schließlich auch die Bildungsarmut erblich: Wer in eine bildungsferne Familie hineingeboren worden ist, wird unabhängig von seinen Anlagen und Talenten mit höherer Wahrscheinlichkeit bildungsarm bleiben. Die Zahl der Bücher, die die Eltern im Regal stehen haben, korreliert hoch mit dem Bildungsabschluss der Kinder, ein Zusammenhang, der durch die frühe Aufteilung auf unterschiedliche Schultypen zementiert wird. Betrachtet man die PISA -Ergebnisse anderer Länder, zeigt sich, dass der Einfluss des Bildungsstands der Eltern auf die Lernleistung der Kinder nicht überall so stark ist wie hierzulande. Sicher: Das Elternhaus ist und bleibt ein wichtiger Ort des Lernens und der Sozialisation, doch wir müssen mehr für diejenigen tun, die hier
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