Lebenschancen
sozialer Chancen wirksam begegnet werden kann. Das Konzept der Lebenschancen könnte dabei eine wesentliche Leitidee sein. Ähnlich wie bei Sen geht es um den Aspekt der Verwirklichung und die Chancen für die individuelle Entwicklung. Lebenschancen stehen für eine offene Gesellschaft und Gelegenheiten für jeden Einzelnen: »Lebenschancen sind Möglichkeiten des individuellen Wachstums, der Realisierung von Fähigkeiten, Wünschen und Hoffnungen, und diese Möglichkeiten werden durch soziale Bedingungen bereitgestellt.« (Dahrendorf 1979: 50) Ist von Lebenschancen die Rede, muss die Frage der Chancengerechtigkeit immer mitgedacht werden.
Wenn Menschen Lebenschancen vorenthalten werden, ist das ein gravierender Eingriff in die individuelle Freiheit. Hoffnungen werden zerrieben, Träume zerplatzen, Enttäuschung macht sich breit. Solche Erlebnisse hinterlassen biografische Narben. Eine Politik, die sich einzig darauf verlässt, Menschen durch »Maßnahmen« zu motivieren, ohne zugleich Freiheiten der Lebensgestaltung bereitzustellen, kann nicht überzeugen. Chancen entstehen nicht (zumindest nicht allein) durch das Abstrampeln in der Aktivierung, sondern vielmehr durch einen gerechten Zugang zu Aufstiegsmöglichkeiten, und zwar von Kindesbeinen an. Viele Menschen fürchten sich vor den Mühlsteinen der
Sozialbürokratie, sie kennen (oder erahnen) die scharfe Grenze zwischen drinnen und draußen und sehen, wie schnell Türen zufallen können. Das macht viele von ihnen risikofeindlich, lässt sie am Alten und Bekannten festhalten. Es hat sich aber auch gezeigt, dass die Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung problematische Folgen für den Zusammenhalt, die Demokratie und die Zivilgesellschaft haben kann. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber und hat schädliche Folgen für die politische Kultur: schnell umschlagende Stimmungen, wachsende Anfälligkeit für Populismen jeder Couleur, zunehmender Fatalismus und erstickte Kreativität.
Die Idee der Lebenschancen ist mit den Wertvorstellungen breiter gesellschaftlicher Gruppen kompatibel. Wir wissen, dass innerhalb der Mittelschicht das Ideal der Chancengerechtigkeit großen Zuspruch findet, so dass hier Anknüpfungspunkte gegeben sind (Sachweh 2009). Das Konzept der Lebenschancen vermag weiterhin bestimmte Sorgen der Mittelschicht direkt anzusprechen, etwa die Angst, in eine Armutsspirale hineinzugeraten, oder den Frust, der mit Schließungen und Privilegien am oberen Ende der Sozialstruktur einhergeht. Für die unteren Schichten geht es zweifelsohne darum, Anschlüsse und Brücken zur etablierten Mitte herzustellen und Marginalisierung zu verhindern.
Befürworter einer an Lebenschancen ausgerichteten Politik finden sich im gesamten Parteienspektrum, bei Liberalen, Konservativen, Sozialdemokraten und Grünen. Das Konzept ist mit dem Wert Freiheit verknüpft, weil es am Individuum und seinen Handlungsmöglichkeiten ansetzt. Aus Sicht der Liberalen muss es daher darum gehen, eine Grundausstattung zu definieren, die die Menschen benötigen, um ihr Leben aktiv in die Hand zu nehmen. Wenn Freiheit nicht ausschließlich negativ definiert wird (also als Abwesenheit von Barrieren und Zwängen), verschiebt sich der Fokus auf die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit Menschen sich entfalten können. Die
Idee der Lebenschancen ist auch anschlussfähig an ein konservatives Verständnis von Gesellschaftspolitik, das auf eine Balance von Freiheit und Sicherheit zielt. Für Sozialdemokraten sind Ideen wie Solidarität und Gerechtigkeit die Punkte, an denen man mit dem Konzept der Lebenschancen andocken kann. Staatliche Interventionen müssen letztlich daran gemessen werden, ob es gelingt, Schwächere und Bedürftige in die Lage zu versetzen, neue Chancen ergreifen und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Für das postmaterialistische Milieu, das die Grünen ansprechen, ist der emanzipative Charakter des Lebenschancenkonzepts attraktiv. Selbst die Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz hat neuerdings die Idee der Chancengerechtigkeit ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellt und betrachtet die »Möglichkeit des Neubeginns« als grundlegendes christliches Prinzip:
»Eine freie und gerechte Gesellschaft muss also jedem Einzelnen angemessene Chancen bieten und ihm – unter Absicherung der sozialen Risiken – ermöglichen, sich gemäß seiner Talente und Fähigkeiten entfalten und sein Leben gestalten zu
Weitere Kostenlose Bücher