Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)

Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)

Titel: Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
Vom Netzwerk:
verging auch viel schneller als unsere recht beschwerliche Hinfahrt.
    Im Koma hat man kein Zeitgefühl. Wenigstens hört man dann aber auch »die Amigos« aus den Bordlautsprechern nicht.
    Insgesamt können wir nur sagen: Danke an unsere beiden Lehrer für die tolle Betreuung und die erfahrungsreiche und spannende Reise!
    Mein Gott, wir sind heilfroh, diesen Irrsinnstrip überlebt zu haben! Gut, Dennis Wagner ist seit der Fahrt nicht mehr aufgetaucht, das Busunternehmen hat der Schule eine Wahnsinnsrechnung für die vollgekotzte Sitzreihe in Rechnung gestellt, und wegen des erheblichen Verlusts von Hirnzellen erinnern wir uns an kaum etwas außer dem Geschmack von Aktivkohle. Aber wenigstens haben wir uns in zwanzig Jahren auf dem Klassentreffen, wo wir uns gegenseitig durch Halbglatze und Reiterhosen fremd geworden sind, was zu erzählen. Alles in allem hat es sich also gelohnt.

Eine Welt in Mintgrün
    Die Krawattennadel des Arztes war verrutscht, der grünbraun gestreifte Strick baumelte vor dem weißen Kittel von Dr. Stöwer, wie auf seinem Namensschild zu lesen war. Kopfschüttelnd notierte er etwas auf einem Block. Ein Ventilator surrte unmotiviert über uns, während ich mit jeder noch so kleinen Bewegung das Schutzpapier der grünen Plastikliege zerriss, auf der ich saß. Es roch nach Desinfektionsmittel, im Nebenraum hustete jemand.
    »Sie wissen, dass wir mit Ihren Eltern sprechen müssen«, sagte Dr. Stöwer und schaute mich ernst aus seinen halb offenen Augen an. Doppelschicht. Vierzehn Kaffee. Kinder mit Keuchhusten, Grippewelle. Sanfter Schlaf lag in weiter Ferne, stattdessen Notaufnahme und Fließbandbetrieb. Bald fünfzehn Kaffee.
    »Er hat keine Eltern, is ’n Heimkind«, log Patrick, dessen Arm lässig über der Lehne eines mintgrünen Plastikstuhls hing. Ihm schien die ganze Situation weit weniger Unbehagen zu bereiten als mir.
    Wenn meine Eltern wüssten, wo ich gerade war, hätten sie seine Aussage wahrscheinlich bestätigt.
    Ungläubig sah ihn der Arzt an, selbst im Halbschlaf schmeckte er die Lüge noch zielsicher aus der schweren Luft des Behandlungsraums hinaus, nickte dann aber nur.
    »Bist du gegen Tetanus geimpft?«, fragte Dr. Stöwer, ohne mich anzuschauen. Ich konnte nur ein kurzes »Weiß nicht« murren, während mein Blut vom Verband auf das Recyclingpapier tropfte und zu mausgrauen Klecksen trocknete. Patricks Blick lief an der Schrankwand entlang, in der eine Unzahl an medizinischen Bestecken lagerte: Skalpelle, Zangen, Spreizer.
    »Wir müssen was tun, damit du keine Blutvergiftung kriegst«, sagte Dr. Stöwer und öffnete eine der Schubladen. Plötzlich hielt er eine Waffe in der Hand. Oder einen Torpedo. Ich konnte nur eine dicke, weiße Plastiktube sehen, aus deren Ende ein Nagel hervorstand. Dann wurde Dr. Stöwers Gesicht undeutlich, seine fahle Haut verblasste, Patrick verblasste, selbst der mintgrüne Stuhl verblasste. Bevor alles schwarz wurde, konnte ich noch sehen, wie Dr. Stöwers Kopf eine Schieflage einnahm – das Geräusch meines Aufpralls auf dem Linoleum hörte ich schon kaum noch. Aber ich sah, wie der Ventilator sich über mir weiterdrehte.

Richtung Süden
    »Prost«, sagte Patrick und stieß mit mir an, das hohle Klirren von Mischbierflaschen hallte über das Schrägdach, am Himmel flogen ein paar Gänse in V-Formation davon. Im Süden lag Essen-Kray – und das Krankenhaus, in dem ich wenig später auf dem Boden liegen sollte.
    Die Sonne leuchtete wie eine riesige Blutorange über das ambitionslose Neubaugebiet, das wie eine Modellbausiedlung vor uns lag. Im Nachbarsgarten schnitt Herr Fennermann seinen Buchsbaum mit einer elektrischen Heckenschere. Die rote Spielstraße, die die Backsteinhäuser miteinander verband, war schon lange verwaist. Die Familien waren fast alle parallel eingezogen, mittlerweile aber in alle Winde zerstreut, vor Langeweile erstarrt oder von Krankheiten dahingerafft worden.
    »Du musst einen Liebesbrief schreiben, das mögen die Ladys«, sagte Patrick und nippte an seinem Bier. »Ladys« sagte Patrick mit einem Zungenschnalzen, als wäre die Liste seiner Verflossenen so lang wie die von Mick Jagger, eigentlich war da bisher nur Sina, aber ich ließ dem Casanova von Gelsenkirchen mal seine Würde. Außerdem führte er 1:0. Hanna Sommer war für mich immer noch weiter weg als Alpha Centauri, Sina dagegen war omnipräsent, dass sie ausnahmsweise mal nicht an Patricks Kopf hing und ein Vakuum in seinen Schädel saugte, war ein

Weitere Kostenlose Bücher