Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
echtes Privileg.
Sina war Patricks erste Freundin und war aus dem Nichts aufgetaucht wie Lippenherpes. Ich fand Sina blöd, weil sie seit ihrer Ankunft an meinem besten Freund klebte und unser Kontingent an gemeinsamer Zeit zusehends schrumpfte, vor allem seit er achtzehn geworden war und Sina ständig im Auto seiner Mutter durch die Gegend kutschierte.
Wenn ich jedoch ehrlich war, verbrachten Patrick und ich immer noch jeden Tag miteinander. Allerdings war jetzt auch Sina immer dabei, dieser gelockte, blonde Hirnparasit, der jedes von Patricks Worten mit schmachtenden Blicken quittierte und ihm schon nach einer Woche einen Ring mit Tribal-Muster geschenkt hatte, mit dem Patrick aussah wie der Schweinesäger vom Schlachthof. Ich war vom besten Freund zum Blinddarm geworden, zu einer Art Leberfleck, der mehr mitgeführt als wahrgenommen wurde. Sina knutschte Patrick im Kino, Sina knutschte Patrick im Schwimmbad, Sina knutschte Patrick sogar, während wir auf der Playstation Aliens erschossen.
»Ich weiß doch gar nicht, wie man einen Liebesbrief schreibt«, gab ich zu bedenken. »Und der an Ashley damals war ja auch ein voller Erfolg«, erinnerte ich Patrick an meine wenig ruhmreiche Vergangenheit. Alle anderen Briefe, die ich in meinem kurzen Leben geschrieben hatte, waren an meinen Vater gegangen und allesamt, meist mit einer schlechten Note, korrigiert zurückgekommen. Wenn Hanna Sommer meinen Brief korrigiert und benotet hätte, wäre ich vor Scham vom Schrägdach gesprungen.
»Ach, du musst einfach schreiben, was du fühlst«, sagte Patrick und stach mit seinem gestreckten Zeigefinger in meine Brust. »Oder soll ich doch mal mit ihr ins Kino gehen und eine Botschaft von dir im Popcorn verstecken?«, frotzelte er. Ausgerechnet Patrick, der größte Pragmatiker der Welt, der statt Rosen lieber eine Packung Blumensamen verschenkte und mit »Hasse mehr von« begründete. Meine Gefühle für Hanna Sommer hatten seit dem Skiurlaub ein pathologisches Maß angenommen, wenn ich ihr auf dem Schulflur begegnete, lief ich sofort rot an wie ein Thermometer, zeitweise setzte mein Herzschlag aus, während ich die letzten Sauerstoffmoleküle aus dem Raum sog und mit offenem Mund dastand wie ein Nilpferd mit Maulsperre. Immerhin hatte Hannas Interesse für Patrick es nicht geschafft, unsere Freundschaft zu zerstören. Als ich auf der Rückfahrt aus England endlich darüber sprechen konnte, was mir Hanna während Patricks Auftritt ins Ohr geflüstert hatte, schob er mir nur einen Zehnmarkschein rüber und sagte: »Das mit dem Kino, das musst du schon selbst in die Hand nehmen, du Idiot!«
»Ich hab Sina auch schon einen geschrieben, die war begeistert«, schwärmte Patrick.
Sina war so in ihn verschossen, die hätte sich auch gefreut, wenn Patrick für sie einen Salto ins Klärbecken gemacht hätte.
»Ich hab meinen kopiert … willste sehen?«, fragte Patrick und zog ein Blatt Papier aus seiner Hosentasche, ohne meine Antwort abzuwarten. Stolz reichte er es mir herüber, immerhin kein Diddl-Papier mit einer Maus auf Schlittschuhen, stattdessen formvollendete Sachlichkeit, graues Recyclingpapier, das A in der Anrede hatte er durch ein Herz ersetzt. Ich las:
Liebe Sin,
jetzt sind wir schon 23 Tage zusammen und ich muss echt sagen, ich lieb dich, aber so richtig. Mit Herzklopfen und dem ganzen Kleister. Ist schon verrückt, weil ich mich vorher eigentlich gar nicht für dich interessiert habe, weil du eigentlich nicht so mein Typ bist. Mittlerweile finde ich dich aber mega, echt. Ich glaub, wir haben Zukunft, auch später. Du bist mein Mädchen, es gibt da keine andere, also außer Tatjana aus der 10c, aber da ist nix, versprochen.
Ich lieb dich total, Kuss
Dein Patrick
Fassungslos starrte ich auf das Papier, Patrick hätte auch in ein Poesiealbum kacken können, schlimmer wäre das Ergebnis kaum geworden.
»Romantisch«, murrte ich und schaute weiter entsetzt auf diese Mutation eines Liebesbriefs, selbst ein Drohbrief von Palästina an Israel konnte nicht so viele Spannungen hervorrufen wie dieses Machwerk. Sosehr ich meinen Freund schätzte, ein Dichter war an ihm nicht verloren gegangen. Wenn es so leicht war, Frauen zu bezaubern, hätte ich mich ja auch einfach nackt mit einem Glas Löwensenf einreiben und Hanna Sommer »Ich bin die Frikadelle der Liebe« vorsingen können.
Mit dem Zeigefinger strich ich über einen seltsamen Fleck, der unter seinem Namen klebte. Wahrscheinlich Ketchup, vielleicht hatte er Sina
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