Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
Fritten zu dem Brief gereicht, das wäre immerhin eine mögliche Erklärung für ihre Begeisterung gewesen.
»Was ist denn das?«
»Blut, ich hab meinen Daumen angeritzt und den Abdruck neben meinen Namen gesetzt, als Zeichen meiner ewigen Liebe«, sinnierte Patrick und zeigte mir die Schnittwunde an seinem Daumen. Tatsächlich, bei genauerem Hinsehen erkannte man einen Fingerabdruck in Form von Patricks Daumen. Unterschrieb man so nicht normalerweise Erpresserbriefe und legte im besten Fall noch den abgehackten Finger des Entführungsopfers bei?
»Mmmh … sei froh, dass Sina nicht bei der Kripo ist«, witzelte ich, der romantische Wert von blutigen Fingerabdrücken erschloss sich mir noch nicht.
»Es geht darum, dass du bereit bist, für die Frau etwas zu opfern«, sagte Patrick und schaute mich dabei an, als hätte er sich für Sina den Arm abgesägt oder seinen Motorroller rituell geopfert.
Ein Opfer für Hanna Sommer? Das ergab Sinn, für Hanna hätte ich mitten auf dem Schulhof eine Maya-Zeremonie initiiert, samt Pyramidenbau und lustigem Federkopfschmuck, ein Schnitt in den Finger war dagegen ja geradezu banal …
Der Liebesbrief
Der nächste Nachmittag, ich saß an meinem Schreibtisch, auf dem sich das normale Chaos eines Siebzehnjährigen auftürmte. Ein Stapel Schulhefte schimmelte neben einem unmotivierten Wecker mit Alf-Motiv, auch die Leselampe war ein Relikt aus der Grundschulzeit, ihr fröhlicher Standfuß in Regenbogenfarben passte nicht mehr in meine Welt der großen Gefühle.
Ein Liebesbrief für Hanna Sommer, was sollte ich da bloß niederschreiben? »Danke, Hanna, dass du mich damals gerettet hast, als ich beim Versuch, Ski zu fahren, fast umgekommen wäre«? »Danke, Hanna, dass du jeden Schultag ein bisschen weniger schlimm für mich machst«?
Mein Vater klopfte, was ich mit einem genervten »Joaaa« quittierte.
»Kannst du mal meinen Radiowecker einstellen? Deine Mutter hat beim Staubsaugen den Stecker gezogen«, fragte er vorsichtig in Richtung meines Schreibtischs. Ich saß mit dem Gesicht in der Handfläche da und brütete über dem leeren Papier.
»Joaaa«, wiederholte ich genervt, als hätte mich mein Vater gebeten, dass ich mal kurz das Wohnzimmer neu tapeziere. Meine Eltern litten unter einem massiven Technikunverständnis, manchmal fühlte es sich an, als müsste man Dschinghis Khan das Internet erklären. Meine Eltern waren Plattenspieler, sie waren Farbfernseher und Toaster – ein digitaler Radiowecker stellte schon ein Mysterium dar, an dem mein Vater verzweifelte wie an der Entschlüsselung eines seltenen Hindu-Dialekts.
»Was machst du denn da?«, fragte er neugierig und lugte über meine Schulter. Das war eindeutig zu viel Einsicht in mein kostbares Privatleben, ich riss das leere Papier vom Tisch, zerknüllte es und schmiss es bockig in die Ecke. Alarmstufe Rot der Hormone, mein Vater ging einen Schritt zurück, ich knurrte.
»Ich schreib ’nen Liebesbrief … irgendwie«, sagte ich dann doch und zeigte auf den Haufen zerknülltes Papier in der Ecke.
»Mhm«, vergaß mein Vater die Vokale, er war sicherlich nicht der richtige Berater in Liebesdingen, ich spürte immer noch das erbrochene Eis von Isabella Calotti in meinem Gesicht. Das letzte Mal, als mein Vater Amor gespielt hatte, wurde ich angekotzt, und Onkel Wilfried schlief eine Nacht in der Arrestzelle. Keine sehr gute Bilanz für den Liebesgott in Birkenstocksandalen.
»Schreib doch einfach, was du fühlst …«, kopierte mein Vater unbewusst den Ratschlag Patricks, das schien ja eine gängige Formel zu sein. Leider war das nicht so einfach; meine Gefühle für Hanna in Worte zu fassen war ein hoffnungsloses Unterfangen, die Myriaden von Hormonen, die wie Kanonenkugeln durch mein Herz und Hirn schossen, hätten höchstens zu einem seltsamen Wortbrei geführt, der wie der Bettelbrief eines Triebtäters geklungen hätte.
»Kann ich nicht«, knurrte ich schon etwas zarter, es war ja auch nett, dass mein Vater Anteil nahm an den Verwicklungen meines banalen Daseins.
»Dann schreib doch, was jemand anders mal gefühlt hat …«, schlug er vor. Westfälischer Pragmatismus. Raubkopie vor dem Zeitalter von Napster und MP3, eine Art analoger Gedankendiebstahl, das schien nicht verwerflich.
»Nimm doch Rilke, der geht immer …«, sagte mein Vater, als wäre Rilke eine Packung Rohrfrei.
Ein paar Minuten später war er aus dem Keller zurückgekehrt, wo er den Großteil seiner riesigen Bibliothek aufbewahrte. Der
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