Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
gesammelte Rilke lag in seiner Hand, das Buch war nicht wirklich dick, so viel hatte der Mann, bevor ihn die Leukämie dahinraffte, wohl gar nicht produziert. Ich kannte ohnehin nur den »Panther«, den unser Deutschlehrer in schöner Regelmäßigkeit zitierte.
»Und was soll Hanna Sommer darüber denken, wenn ich ihr was von Raubkatzen schreibe?«, sagte ich bockig, für mich war Rilke so etwas wie ein dichtender Zoopfleger.
Mein Vater schaute irritiert.
»Nimm doch das hier … das hab ich deiner Mutter mal geschrieben … sie hat’s nicht gemerkt«, sagte er und schlug das Buch auf. Durch den Türspalt konnte ich meine Mutter sehen, sie saugte gerade das Wohnzimmer. Er reichte mir das Buch, und ich las:
Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
Oh Mann, Rilke war kein Rohrfrei, kein Zoopfleger, der Mann hatte es drauf, eindeutig. Das war genau das, was ich Hanna Sommer sagen wollte, die verdichtete Masse all meiner Gefühle, die schwarze Materie meiner Teenageremotionen.
»Mensch, klasse, das mach ich …«, sagte ich euphorisiert, mein Vater lächelte, in seinem Geist war sein Versagen bei Isabella Calotti damit wohl wieder aufgehoben, er war rehabilitiert.
Aber konnte ich einfach nur das Gedicht abschreiben? War das nicht etwas einfallslos? Da erinnerte ich mich an Patricks Worte über die ewige Liebe, Opfer darbringen und so.
Opfer darbringen? Ich kam bis zur zweiten Zeile, bevor ich entkräftet mit dem Kopf auf meinem Schreibtisch aufschlug. Mir fiel noch auf, dass der Alf-Wecker stillstand, die Batterie war wohl leer.
Eine Welt in Blutrot
Schon wieder Dr. Stöwers Krawatte, diesmal hing sie direkt vor meinem Gesicht. Dumpf konnte ich die Stimme des Assistenzarztes hören, Patrick grinste mich von seinem mintgrünen Hocker aus an.
»Da ist er ja wieder«, sagte er, seine Stimme war schwer und unwirklich, als würden sie durch ein Abflussrohr zu mir dringen.
»Junge, du kannst doch nicht einfach so wegklappen«, warf mir Dr. Stöwer vor, als wäre mein Kreislauf ein kleines Kind, das ermahnt gehört. Ich sah an mir herab, mein Arm war mittlerweile fest verbunden, die stiftlange Schnittwunde wurde nun von einer weißen Kompresse bedeckt.
»Ich muss bei solchen Suizidversuchen einen Psychologen dazuholen, das sag ich euch jetzt schon«, sagte der Arzt, immer noch vorwurfsvoll und notierte wieder etwas auf seinem Block.
»Selbstmord … was für ein Kappes«, sagte Patrick und schlug sich lachend auf den Oberschenkel.
Ich wollte eigentlich sagen: »Nein, Herr Doktor, ich wollte nur einen Liebesbrief mit Blutschwur schreiben, keine Sorge!«, allerdings verließ meinen Mund, geschwächt von Ohnmacht und Betäubung, nur ein gestrecktes »Näää«.
»Lach mal nicht, junger Mann, das ist eine ernste Sache«, sagte Dr. Stöwer anteilslos und genervt, ich war wahrscheinlich nicht der einzige Liebestrunkene, der hier mit zerschnittenen Armen auftauchte. Wahrscheinlich aber der Einzige, der einfach mal einen kompletten Liebesbrief mit Blut schreiben wollte. Patricks Fingerabdruck war eine tolle Idee gewesen, und ich dachte, wenn Sina wegen des Ketchupflecks schon fast die Zähne vor Begeisterung ausfielen, konnte ich die Sache doch noch auf die Spitze treiben und gleich einen ganzen Brief mit meinem Lebenssaft verfassen. Wie ich allerdings schnell feststellen musste, war es gar nicht so leicht, an genug Blut für einen ganzen Brief zu kommen. Der Daumen reichte gerade mal für die Anrede, also hatte ich mir mit dem Käsemesser in den Arm gesägt. Grandios dämlich.
»Er wollte einen Liebesbrief schreiben, ist aber nur bis zur Seele gekommen, bis zum Geiger hat er’s nicht mehr geschafft«, gab Patrick dem Arzt zu Protokoll, der wiederum darüber nachdachte, ob vielleicht sogar zwei Psychologen gebraucht würden.
»Ich wollte wie immer durchs Fenster in sein Zimmer steigen, hab ihn dann so an seinem Schreibtisch gefunden und mit dem Taxi hergebracht, zum Glück waren seine Eltern nicht da …«, sagte Patrick und hielt sich zum
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