Lebenslänglich
Treppenstufe.
«Sie sieht immer nur sich selbst. Es ist ganz egal, was mir passiert, nur sie selbst ist wichtig.»
«Sie ist ein kleiner Mensch mit einem kleinen Horizont», sagte Berit. «Sie ist gar nicht in der Lage, dich so zu sehen, wie du bist, und das ist ein Mangel, der ihr nicht bewusst ist.»
Annikas Augen füllten sich mit Tränen.
«Das ist ein so verdammt… trauriges Gefühl», sagte sie. «Warum kann ich nicht eine Mutter haben wie alle anderen, die mir beisteht und hilft und sich um mich kümmert?»
Berit setzte sich neben sie.
«So eine Mutter haben die anderen auch nicht alle», sagte sie. «Manche haben überhaupt keine. Ich glaube, du musst einsehen, dass du sie nicht ändern kannst. Sie wird nie so sein, wie du sie dir wünschst. Du musst sie einfach so akzeptieren, wie sie ist, genau wie sie es mit dir tun sollte.»
Sie schauten eine Weile stumm hinüber zum Wald. Der Wind war aufgefrischt, die Tannen schwankten unter den Böen. Annika sah auf die Uhr.
«Kann ich die Kinder wieder bei dir lassen? Ich müsste kurz in die Stadt, ich treffe mich nochmal mit Nina Hoffman.»
Berit nickte.
«Mich lässt die Sache mit dem verschwundenen Jungen nicht los», sagte sie. «Die ganze Geschichte ist überaus merkwürdig.»
«Jeder kann verrückt werden», sagte Annika. «Ich glaube, wenn einem Menschen alles unter den Füßen wegbricht, ist er zu allem fähig.»
Berit sah sie nachdenklich an.
«Ich für mein Teil glaube das nicht», sagte sie. «Nicht jeder könnte sein Kind töten.
Dazu muss einem irgendwas fehlen, eine Art Sicherung oder so.»
Annika schaute über die grau schimmernde Oberfläche des Sees.
«Ich wäre mir da nicht so sicher», erwiderte sie. Im nächsten Moment fing es an zu regnen.
Nina Hoffman wartete an einem schmuddeligen Cafetisch in der Nytorgsgatan auf sie.
Die Polizistin bemerkte Annika nicht, sie saß mit dem Rücken zur Tür und starrte aus dem halbblinden Fenster. Sie hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine graue Kapuzenjacke, das Licht fiel auf ihr verschlossenes Profil. Sie hatte das Kinn in die Hand gestützt und schien in Gedanken versunken zu sein.
Annika ging um den Tisch herum.
«Hallo», sagte sie und streckte die Hand aus.
Nina Hoffman stand auf, und sie begrüßten sich.
«Einen Kaffee, schwarz», bestellte Annika an der Theke, bevor sie sich setzte.
Mittagsgäste begannen das kleine Café zu bevölkern. Nasse Straßenkleider verbreiteten einen Geruch nach feuchter Wolle. Nina sah aus dem Fenster.
«Sie haben sich Gedanken über die Anklage gegen David wegen Misshandlung gemacht?», fragte sie.
Kein Smalltalk, okay.
Annika hob ihre Schultertasche auf den Schoß, kramte darin herum und zog eine Tüte Schaumspeckautos sowie die Mappe mit den Dokumenten vom Disziplinarausschuss hervor.
«Sie wussten also, weswegen David sich damals vor Gericht verantworten musste?», fragte sie und stopfte die Süßigkeiten wieder in ihre Tasche.
Blitze schössen aus Nina Hoffmans Augen.
«Wie sind Sie auf die Sache gekommen?»
Annika legte die Hände auf den Cäfetisch.
«Ich war bei der Landespolizeileitung», sagte sie. «Warum überrascht Sie das so?»
Nina sah wieder aus dem Fenster.
«Ich wusste nicht…»
Sie verstummte und saß eine Weile unbeweglich da. Annika wartete. Eine Frau mit Kinderwagen zwängte sich hinter ihr vorbei, um sich an den Tisch hinter ihnen zu setzen. Nina reagierte nicht. Schließlich drehte sie sich zu Annika um, rückte mit dem Stuhl dichter an den Tisch und beugte sich vor. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.
«Was ich jetzt sage, habe ich noch keinem Menschen erzählt, denn ich weiß nicht genau, was ich davon halten soll. Kann ich mich auf Sie verlassen?»
Annika unterdrückte einen Schluckreflex.
«Ich schreibe nichts ohne Ihre Erlaubnis, das wissen Sie. Sie sind meine Informantin, und als solche sind Sie nach dem Gesetz geschützt.»
«Ich war ziemlich perplex, als Sie mich angerufen haben. Ich dachte, die alten Anklagen wären vergessen und begraben.»
«Und wie haben
Sie
davon erfahren?»
Nina zupfte an ihrem Pferdeschwanz.
«Julia hatte sie mir gezeigt. Bei unserer letzten Begegnung vor dem Mord. Sie hatte sie in Davids Archiv im Keller gefunden.»
Annika kämpfte gegen den Impuls, nach dem Stift zu greifen und sich Notizen zu machen.
Ich muss versuchen, mir alles zu merken.
«Warum hat sie Ihnen diese Unterlagen gezeigt?» Nina zögerte wieder.
«Ich habe immer versucht, Julia zu
Weitere Kostenlose Bücher