Lebenslang Ist Nicht Genug
das auch nicht sein richtiger Name.« Aber auch diesmal hatte sie keinen Erfolg gehabt. »Wer ist da, Irene?« hatte der Dicke aus der Wohnung gebrüllt, und Irene hatte Gail schroff die Tür vor der Nase zugeschlagen.)
Einen Tag vor dieser Unterredung war Gail in den dritten Stock hinaufgegangen, hatte sich ans Treppengeländer gelehnt und gewartet, aber niemand hatte eins der Zimmer betreten oder war herausgekommen. Als sie an dem Tag die Pension verließ, um zum Tarlton Drive zurückzufahren, hatte die Hauswirtin ihr mißtrauisch nachgesehen.
Gail hatte das Gefühl, sie stehe schon sehr lange reglos mitten im Schlafzimmer. Im Haus war alles still. Jennifer verbrachte das Wochenende bei Mark und Julie. Sie hatte Gail ihr Geburtstagsgeschenk - ein Paar schwarze Lederhandschuhe - schon gestern abend gegeben.
Gail fand, ihr vierzigster Geburtstag eigne sich genausogut für den Hausputz wie jeder andere Tag. Jack hatte neulich darüber geklagt, daß er seine Wintersachen nicht finden könne. Das wenigste, was sie für ihn tun konnte, war, seinen Schrank in Ordnung zu bringen.
Sie begann mit dem Schlafzimmer, räumte sämtliche Schubladen aus und machte sie sauber, ehe sie die Kleidungsstücke frisch gefaltet wieder hineinlegte. Als nächstes nahm sie sich die Schränke vor, räumte die leichten Baumwollsachen nach hinten und holte die schweren Wintersachen nach vorn. Dann kniete sie
sich auf den Boden und sortierte die vielen Paar Schuhe, die unten im Schrank standen. Weiße Sandalen mußten schwarzen Pumps Platz machen, und leichte Ballerinas verschwanden hinter gefütterten Stiefeln. Plötzlich fiel ihr Blick auf eine Tragtasche, die hinter das letzte Paar Schuhe in die Schrankecke gezwängt war. Ihr Puls schlug schneller, während ihre Hand sich danach ausstreckte. Es war eine große Tüte, und sie war Gail wohlvertraut, obschon sie ihr nicht mehr vor die Augen gekommen war, seit am 30. April die Polizeiautos vor ihrem Haus gestanden hatten. Da hatte sie die Tüte auf den Bürgersteig fallen lassen und mit ihr noch einige andere, die jetzt hinter der ersten im Schrank zum Vorschein kamen. Ihre Einkäufe von jenem Tag. Sie schleppte die Tüten und Päckchen zum Bett, riß sie auf und holte die Sachen heraus, die sie gekauft hatte, während ihre Tochter hinter einem Gebüsch vergewaltigt und erdrosselt wurde, in einem friedlichen kleinen Park in der Nachbarschaft.
Irgend jemand mußte die Tüten und Päckchen gefunden und ins Haus gebracht haben. Ihr Name stand auf den beiliegenden Rechnungen. Nacheinander packte sie jedes Teil aus, ein paar Shorts und die dazu passenden Tops für Jennifer, ein hübscher Baumwollhänger; zwei bezaubernde Sommerkleidchen für Cindy.
Was hatte sie noch für sich gekauft? Was hatte sie so dringend gebraucht? Was hätte nicht bis zu einem anderen Tag, bis zu einer passenderen Zeit warten können? Sie zog ein blauweiß bedrucktes Baumwollkleid hervor. Es war sommerlich leicht, fröhlich in den Farben, doch sein Anblick erfüllte sie mit Ekel. Zusammen mit einem kessen, rotweiß gestreiften Badeanzug stopfte sie es zurück in die zerrissene Tragtasche.
Gail verstaute sämtliche Tüten und Päckchen in einer großen grünen Mülltüte und warf eine frühere Lieblingsbluse obenauf, die sie ärgerlich vom Bügel riß.
Als nächstes nahm sie sich Jennifers Zimmer vor, lüftete ihre Sachen aus und vertauschte die leichten Sommerkleider mit
Thermohosen und dicken Pullovern. Was hatte ihre Familie in den letzten Monaten eigentlich angezogen, fragte sie sich jetzt.
Sie hatte nicht darauf geachtet.
Vor Cindys Tür zögerte sie.
Seit dem letzten Apriltag hatte niemand mehr das Zimmer betreten. Nicht einmal die Einbrecher hatten sich hineingewagt. Gail stand vor der geschlossenen Tür und hielt den Atem an. Langsam streckte sie die Hand aus und legte sie auf die Klinke. Aber sie drückte sie nicht hinunter, sondern schluckte nur mühsam und sah sich um, als wolle sie sichergehen, daß niemand sie beobachte. Nach ein paar Minuten, in denen ihre Hand mit der Klinke zu verschmelzen schien, öffnete sie mit einem Ruck die Tür und trat einen Schritt zurück.
Gail erwartete beinahe, Cindy vor ihrem Bett knien und mit ihren Barbie-Puppen spielen zu sehen. Aber der Lieblingsplatz ihres Kindes war leer, und der Beutel mit den Barbies - bei ihrer letzten Zählung war Gail auf mindestens zehn gekommen -, die gewöhnlich überall im Zimmer verstreut lagen, lag schön ordentlich in einer Kiste. Der
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