Lebenslang Ist Nicht Genug
weiter. Die Zeiten des einfachen >Schuldig< oder ›Nicht schuldig< sind längst vorbei.«
»Verstehe. Dann beginnt also der Prozeß?«
»Manchmal. In der Regel versucht jedoch der Anwalt, sowohl dem Staat als auch seinem Mandanten den damit verbundenen zeitlichen wie finanziellen Aufwand zu ersparen, und er strebt einen Vergleich an.«
»Was heißt das?«
»Der Angeklagte gibt etwas preis und erhält im Gegenzug einen Vorteil. Eine Art Kompromiß, wenn du so willst. Ein Status quo, auf den beide Seiten sich einigen können. Nimm zum Beispiel an, ein Typ erschießt seinen Kumpel, nachdem er ihn beim Falschspielen ertappt hat. Beide waren zur fraglichen Zeit schwer betrunken. Dann würde der Verteidiger vermutlich auf verminderte Schuldfähigkeit plädieren und versuchen, die Klage auf Totschlag zu drücken. Nehmen wir aber nun weiter an, der Beschuldigte sei im Besitz von Informationen über ein anderes Verbrechen und willens, der Polizei zu helfen, vorausgesetzt, die Anklage gegen ihn und folglich auch das Strafmaß fallen milder
aus. Dann beginnt man zu handeln, und wahrscheinlich würde die Anklage zum Schluß auf fahrlässige Tötung lauten, was bedeutet, daß der Kerl mit ein paar Jahren Gefängnis davonkäme, ohne daß je eine Verhandlung stattzufinden bräuchte. Bei guter Führung und mit ein bißchen Glück würde der Angeklagte in weniger als einem Jahr auf Bewährung freigelassen.«
»Und das soll Gerechtigkeit sein?«
»Tja, Gail, es ist die beste, die wir haben, glaub mir.«
»Klingt nicht sehr ermutigend.«
»Dann laß mich dir verraten, wie die Alternative aussähe. Man würde dem Typ den Prozeß machen, ihn der vorsätzlichen Tötung anklagen und erst mal in einem Netz kostspieliger Aufschubsmanöver und Verzögerungstaktiken hängenbleiben. Wenn es dann endlich zur Verhandlung kommt, hat der Kerl die Chance, daß der Urteilsspruch genauso ausfällt wie im ersten Beispiel und er keinen Tag länger abzusitzen braucht.«
»Du meinst, er läuft in weniger als einem Jahr wieder frei rum?«
»Höchstwahrscheinlich. Man kann die Leute nicht ewig hinter Gitter stecken.«
»Wenn aber nun jemand des vorsätzlichen Mordes angeklagt wird?«
»Die Todesstrafe hat man zwar wieder eingeführt, doch in unserem Staat ist seit langem niemand mehr hingerichtet worden. Lebenslängliche Haftstrafen werden schon eher verhängt.«
»Und was heißt das im Klartext?«
»Zwanzig Jahre. Im Höchstfall. Wenn einer sich gut führt und Bewährung kriegt, wahrscheinlich weniger als die Hälfte davon.«
»Und der Mann, der meine kleine Tochter getötet hat?« fragte Gail ruhig. »Was bekäme der?«
»Weißt du«, begann Mike behutsam, »jemand, der eine Sechsjährige vergewaltigt und, umbringt, ist ohne Zweifel geistesgestört. Aber psychische Fälle sind für die Verteidigung äußerst
heikel. Die juristische Definition mißt die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten daran, ob er zur Tatzeit zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte oder nicht. Und das ist sehr schwer festzustellen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich meine, die Polizei wird nur dann eine Festnahme vornehmen, wenn entweder ein Geständnis vorliegt oder ein klarer Indizienbeweis. Die Geschworenen werden ihn für schuldig befinden, und er wird in Einzelhaft kommen, zum Schutz vor den anderen Gefangenen.«
»Zu seinem Schutz?«
»Vor dem Gesetz hat auch dieser Mann gewisse Rechte.« Mike senkte den Kopf. »Ich weiß, wie das in deinen Ohren klingen muß, und in vieler Hinsicht ist es auch der reinste Mist, aber du darfst nicht vergessen, daß diese Gesetze ursprünglich zum Schutz unschuldiger Bürger erlassen wurden.«
»Und was ist mit den Schuldigen?«
Mike zuckte hilflos mit den Schultern. »Was soll ich dir darauf antworten?« Gail sah ihn erwartungsvoll an. »Ich wünschte, ich könnte irgendwas für dich tun. Ich würde den Kerl selbst abknallen, wenn dir damit geholfen wäre.«
»Erst einmal müssen wir ihn finden.«
»Sie kriegen ihn bestimmt«, sagte Mike und änderte dabei unbewußt das Personalpronomen. Er stand auf. »Ich muß jetzt gehen. Mein Mandant wird sich schon wundern, wo ich bleibe.« Er schob einen Dollarschein unter seine leere Kaffeetasse. »Möchtest du Laura nicht etwas bestellen?«
Gail hatte das Gefühl, sie sehe ihre Freundin vor sich, und der Text eines alten Liedes aus ihrer Schulzeit fiel ihr ein. »Sag Laura, daß ich sie liebe«, sang eine klagende Stimme in den Tiefen ihres Gedächtnisses. »Sag Laura, daß
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