Lebenslang Ist Nicht Genug
sie mir fehlt.«
Aber die Worte wollten nicht über ihre Lippen. »Sag Laura...« Sie stockte, schüttelte den Kopf und senkte den Blick auf ihre Kaffeetasse.
Mike wartete darauf, daß sie wieder zu ihm aufschauen würde, doch als das nicht geschah, machte er kehrt und verließ mit entschlossenem
Schritt das kleine Lokal. Gail hörte die Tür zuschlagen, aber sie sah ihm nicht nach, um festzustellen, in welche Richtung er ging.
Nach einer Weile hatte sie das unbehagliche Gefühl, jemand beobachte sie. Gail schaute auf.
Er stand an der Theke, doch ehe ihr Blick dem seinen begegnen konnte, wandte er sich ab und tat so, als interessiere er sich nur für seinen Kaffee. Gail erkannte ihn sofort. Unter der saloppen Kleidung zeichnete sich sein gedrungener Körper ab, die dunklen Locken fielen ihm tief in die Stirn.
Jetzt bestand kein Zweifel mehr - wer immer der Mann auch sein mochte, er verfolgte sie. Blieb nur die Frage nach dem Warum.
25
An ihrem vierzigsten Geburtstag machte Gail Hausputz. Es war ein Samstag, und Jack hatte ihr versprochen, etwas mit ihr zu unternehmen, aber seine Sprechstundenhilfe hatte frühmorgens angerufen und einen Notfall gemeldet.
Gail lag noch im Bett, als Jack sich mit einem Kuß von ihr verabschiedete, um in seine Praxis zu fahren. Sie spielte mit dem Gedanken, nach Newark zu fahren, doch seit gestern schneite es, zum erstenmal in diesem Winter, und die Straßen waren noch nicht geräumt. Außerdem wußte sie nicht, wann Jack zurückkommen würde. Also beschloß sie, daheimzubleiben. Sie duschte, zog sich an, stand dann lange im Schlafzimmer am Fenster und sah durch die blaue Gardine hinaus in die wirbelnden Flocken, die New Jersey seit dem gestrigen Nachmittag in einen weißen Mantel hüllten. Die Rückfahrt von Newark war dadurch gestern sehr anstrengend gewesen. Mehrmals hatte sie nur im letzten Moment einen Unfall vermieden. Beim ersten Schneefall
schienen die Leute jedes Jahr das Autofahren zu verlernen. »Fahren Sie vorsichtig«, hatte der Radiosprecher gewarnt. »Achten Sie auf entgegenkommende Fahrzeuge.«
Cindy hätte sich über diesen Schnee wahnsinnig gefreut, dachte Gail und trat vom Fenster zurück. So unvorstellbar es auch schien - in sieben Wochen war Weihnachten, Gails erstes Weihnachten nach über sechs Jahren ohne ihre kleine Tochter.
Eine flüchtige Kindheitserinnerung stieg unvermutet in ihr auf. Sie sah sich als kleines Mädchen, wie sie lächelnd zu ihrem Vater aufschaute, der im gestreiften Schlafanzug mitten im Wohnzimmer stand, das Gesicht vor Zorn und Anstrengung gerötet, und sich vergeblich bemühte, den Christbaum aufzurichten. Der Baum war mit Kugeln und Lametta überladen, und der Ständer, den ihr Vater gekauft hatte, konnte ihn nicht halten. Mochte er sich auch noch so sehr bemühen, ihm seine schönsten Lieder vorsingen, ihn beschimpfen und verfluchen, es gelang ihm nicht, den störrischen Baum geradezustellen. Nachdem er sich fast eine Stunde lang geplagt, die Arme an den Ästen wund gekratzt und die nackten Füße an den winzigen Splittern der vielen zerbrochenen Christbaumkugeln zerschnitten hatte, befahl er mit schweißglänzendem Gesicht seiner inzwischen fast hysterischen Frau, den »verfluchten Baum« zu halten, während er Hammer und Nägel holen ging und die Tanne direkt am Fußboden festnagelte! »Wollen doch mal sehen, ob er jetzt immer noch umkippt«, verkündete er triumphierend seiner Frau und den beiden Töchtern, die ihm sprachlos vor Staunen zusahen.
Wie alt mochte sie damals gewesen sein? Zehn? Zwölf? Die Erinnerung war noch so frisch. Jetzt war sie vierzig. Zwischen diesem Kindheitserlebnis und heute lagen dreißig Jahre.
Irgendwann war sie erwachsen geworden und hatte selbst zwei Töchter bekommen, genau wie ihre Mutter vor ihr. Und dann war es nur noch eine, dachte sie, und ein Schauder lief durch ihren Körper, als zwei Männer vor ihrem inneren Auge auftauchten. Der eine war nicht besonders groß und hatte dichte,
ungebändigte schwarze Locken; das Haar des anderen war hell, und er trug eine gelbe Windjacke.
Sie hatte den dunkelhaarigen Mann seit jener Begegnung im Restaurant Anfang der Woche nicht mehr gesehen, wohl aber mehrmals seine Gegenwart gespürt. Nick Rogers hatte sie noch nicht wiedergefunden.
(»Sind Sie ganz sicher, daß Sie keinen Nick Rogers kennen?« hatte sie die Hauswirtin ein zweites Mal gefragt und ihr eine genaue Beschreibung des Jungen gegeben. »Ich glaube, er wohnt im dritten Stock. Vielleicht ist
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