Lebenslang Ist Nicht Genug
wußte sie, daß Eddie nichts mit Cindys Ermordung zu tun hatte. Sie hatte ihn nicht eine Sekunde lang verdächtigt. Ihr Blick wanderte von den gespenstisch verzerrten Zügen des Jungen hinunter zu seinen zitternden Händen.
»Fahr nach Hause, Eddie«, hörte sie Jack leise sagen. Gleich darauf schlug die Haustür zu.
Die drei Menschen im Zimmer waren zu erschöpft, um sich zu rühren. Wir stehen da wie leblose Statuen, dachte Gail und suchte den Blick ihrer Tochter.
»Jetzt haßt du mich«, sagte sie voller Scham über ihren Wutausbruch.
»Nein«, antwortete Jennifer. »Ich könnte dich nie hassen.«
»Ich wollte das nicht sagen. Ich war einfach nicht ich selbst. Als ich dich so mit Eddie sah, da hab’ ich die Nerven verloren.«
»Ich weiß. Ich kann’s verstehen.«
Gail sah ihrer Tochter forschend in die Augen. »Ist das wahr? Verstehst du’s wirklich?«
Jennifer nickte. »Wenn’s dir recht ist, möchte ich jetzt gern zu Bett gehen.«
»Natürlich.«
»Ich ruf’ Dad vom Schlafzimmer aus an und sag’ ihm, daß ich heute nacht nicht mehr komme.«
Gail nickte. »Ich liebe dich«, flüsterte sie, aber Jennifer war bereits aus dem Zimmer gegangen.
30
Am nächsten Tag kam Jennifer erst gegen Mittag herunter. Gail war nicht erstaunt darüber; vermutlich hatte Jennifer in der letzten Nacht nicht viel geschlafen, genausowenig wie sie und Jack.
Gail hatte Jennifer nachts mehrmals ins Bad gehen, einen Schluck Wasser trinken und wieder in ihr Zimmer zurückkehren hören. Sie hatte erwogen, ihrer Tochter nachzugehen und noch einmal alles zu erklären. Aber sie wußte, das hatte keinen Sinn. Sie hatte überreagiert, daran gab es nichts zu deuteln. Es war nichts weiter als eine harmlose Teenager-Knutscherei gewesen. Das versuchte sie sich wieder und wieder einzureden, bis sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Jack war morgens sehr früh aufgestanden und hatte das Haus verlassen mit der Begründung, er brauche unbedingt frische Luft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Die Szene, die Gail heraufbeschworen hatte, war ihm sehr nahegegangen, auch wenn er kein Wort darüber verlor, wohl weil er einsah, daß es nichts mehr zu sagen gab. Als Gail geduscht hatte und in die Küche hinunterkam, war er noch nicht zurück.
Sie setzte sich mit der letzten Sonntagsausgabe der »Times« an den Tisch und las einen Artikel über eine Frau, die man wegen Mißachtung des Gerichts mit einer Haftstrafe belegt hatte, weil sie sich - aus Angst um ihr Leben - geweigert hatte, gegen zwei Männer auszusagen, die beschuldigt wurden, sie vergewaltigt zu haben. Die beiden Männer waren wieder auf freiem Fuß. In einem anderen Bericht war von einem überführten Mörder die Rede, der zwar zu lebenslänglich verurteilt worden war, nun aber nach sieben Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen
werden sollte. Allerdings wurde sein Straferlaß rückgängig gemacht, als sich in der Bevölkerung empörter Protest regte. Doch das Appellationsgericht legte Wert auf die Feststellung, daß die Entrüstung der Öffentlichkeit nicht bewirken könne, einem Menschen Straferlaß zu verweigern, und so bestand nach wie vor die Chance, daß der Mörder freikommen würde. Dem Pressesprecher der Haftanstalt zufolge besaß dieser Mann, der einen Jugendlichen umgebracht, ferner drei Frauen vergewaltigt und fast ein Dutzend weiterer Kapitalverbrechen begangen hatte, eine »unter dem Durchschnitt« liegende Neigung zu Gewalttätigkeit. Gail war noch in ihre Lektüre vertieft, als Jennifer kurz vor Mittag herunterkam. Rasch legte sie die Zeitung weg und stand auf, um ihre Tochter zu begrüßen.
»Was möchtest du zum Frühstück?« fragte sie und bemerkte, daß Jennifer geweint hatte. Ihre Augen waren rot, die Lider geschwollen, auf ihren Wangen brannten hektische Flecken. Jennifer wich dem Blick ihrer Mutter aus. Sie starrte auf ihre Hände und kratzte mit dem Finger an der Tischplatte. »Ich hab’ keinen Hunger«, sagte sie.
»Möchtest du was trinken? Einen Orangensaft?«
Jennifer schloß die Augen und atmete tief durch. »Na gut«, sagte sie schließlich.
Gail ging zum Kühlschrank und goß ihrer Tochter ein großes Glas Orangensaft ein. »Konntest du letzte Nacht nicht schlafen?« Jennifer schüttelte den Kopf, nahm das Glas, das ihre Mutter ihr reichte, und setzte es an die Lippen. Doch sie trank nicht. »Ich dachte, du seist vielleicht doch noch eingeschlafen«, fuhr Gail fort. Sie verspürte eine diffuse Angst.
Jennifer
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