Lebenslang Ist Nicht Genug
daß Cindy Walton am dreißigsten April gegen fünfzehn Uhr dreißig von einem unbekannten Täter sexuell mißbraucht und anschließend mit den Händen erdrosselt worden sei; im wesentlichen die gleiche Information, die ihr der Kommissar gegeben hatte, als er noch gar nichts zu wissen glaubte. Nach zwei Tagen war die Polizei ungeachtet aller gegenteiligen Beteuerungen keinen Schritt weitergekommen, hatte noch keine Chance wahrgenommen, den Mörder zu fassen. Man hatte lediglich die Bestätigung dessen erbracht, was alle Beteiligten von Anfang an wußten. Aber der Körper ihrer kleinen Tochter hatte unter
dem Messer des Gerichtsmediziners eine weitere Schmach erlitten, die Spur des Mörders war um zwei Tage älter, und entgegen ihrer Stellungnahme vor der Presse war Gail sich ganz und gar nicht sicher, daß man den Täter fassen würde. Der Umstand, daß die beiden Hauptverdächtigen Menschen waren, von deren Unschuld sie überzeugt war, stärkte nicht gerade ihr Vertrauen in die Fähigkeiten der Polizei. Die werden den Mörder nie finden, ging es ihr durch den Kopf; während sie den Blick auf Lieutenant Coles straffe Schultern gerichtet hielt.
Er ist ein netter Kerl; er meint’s gut; er scheint uns wirklich helfen zu wollen. Aber für ihn ist Cindy eben doch bloß ein Fall. Und das ist sie auch für alle anderen, ein trauriges, ja tragisches Ereignis, gewiß, aber kein ungewöhnliches in der heutigen Zeit. Ihr Tod hat die Leute vielleicht berührt, aber ihr Leben hat er nicht verändert. Die Polizei wird tun, was in ihren Kräften steht, aber wenn man’s genau betrachtet: Was können sie schon tun? Sie wußte aus der Presse, daß die Spur eines Mörders nach ein paar Tagen so gut wie verwischt ist. Gail hatte Grund zu der Annahme, daß die Polizei den Täter nicht mehr fassen würde, wenn es ihr bis jetzt nicht gelungen war, ihn zu stellen.
Der Mörder ihrer Tochter war entkommen und bewegte sich frei auf den Straßen der Stadt. Dieser Gedanke zerriß den Nebelschleier, den das zuletzt verabreichte Beruhigungsmittel über ihr Gehirn gebreitet hatte. Das ist die schlimmste Erniedrigung, dachte sie. Aber ich darf es nicht erlauben, niemals! Und in ihrem Kopf formte sich ein Plan: Wenn die Polizei den Mörder ihrer Tochter nicht finden konnte, dann mußte sie es selbst tun.
Gail war nicht sonderlich überrascht von dieser Erkenntnis. Es schien, als habe ihr Unterbewußtsein von Anfang an eine solche Absicht gehegt. Es war im Grunde ganz einfach: Sie würde den Tod ihrer Tochter rächen und den Mörder seiner gerechten Strafe zuführen. Sie würde nicht länger die hilflose Marionette bleiben, als die sie sich in ihren Alpträumen erschienen war.
Aber zuvor werde ich der Polizei eine Chance geben.
Gail lehnte sich an Jack, ließ ihren Körper ausruhen, um neue Kraft zu schöpfen. Sie blickte aus dem Fenster.
Ich werde ihnen sechzig Tage geben, entschied sie.
4
Ihre Familie empfing sie an der Haustür - mit Gesichtern, die an die düsteren Menschendarstellungen auf den Holzschnitten von Edvard Munch erinnerten, Gesichter, die in unbewältigtem Schmerz erstarrten.
»Mom!« Gail taumelte in die Arme ihrer Mutter. Ihre zitternden Körper preßten sich haltsuchend aneinander.
»Mein Liebling!« Gail hörte ihre Mutter schluchzen, doch dann fühlte sie sich von starken Armen fortgezogen.
»Daddy«, seufzte sie. Ihr Vater, ein stattlicher Mann mit sonnengebräuntem Gesicht, preßte sie fest an seine Brust und vergrub den Kopf an ihrer Schulter. Sie spürte am Gewicht seines Körpers, daß sie ihn genauso stützte wie er sie.
»Wie furchtbar«, murmelte er. »Unsere süße kleine Cindy.«
Gail versuchte vergeblich, den Kopf zu bewegen. Ihr Vater hielt sie mit eisernem Griff umklammert. Auf einmal kam sie sich vor wie in einer Zwangsjacke, mit seitlich festgepreßten Armen und unfähig, sich zu rühren. Als sie versuchte, sich zu befreien, schienen die Arme ihres Vaters sich nur noch fester um sie zu schließen. Sie fühlte sich wie ein hilfloses Tier, das langsam von einer Python getötet wird. Bei jedem verzweifelten Atemzug ihres Opfers wand die Riesenschlange sich fester um ihre Beute. Gail bekam keine Luft mehr. Er würgte sie, erdrosselte sie, preßte das Leben aus ihrem matten Körper. Mein Gott, Cindy, war es so? schrie es in ihrem Herzen. Dann riß sie sich mit Gewalt aus den Armen ihres Vaters. Verwirrt starrte er sie an. Schließlich sagte er eindringlich: »Sie werden
ihn schon kriegen. Und wenn wir
Weitere Kostenlose Bücher