Lebenslang Ist Nicht Genug
Cindy gelacht hätte.
»Was machst du denn da, Mom?« fragte eine ängstliche Stimme hinter ihr.
Gail wandte sich um. Jennifer stand in der Tür. Gail schwieg. Sie wußte selbst nicht, was sie tat, wie hätte sie also die Frage ihrer Tochter beantworten können? Jennifer trat zu ihr, nahm ihr den Fernbedienungsapparat aus der Hand und drückte auf »Aus«. Ein paar Minuten lang schwiegen sie beide.
»Bist du mit den Aufgaben fertig?« fragte Gail, sobald sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.
»Ich wollte grade rüber zu Eddie, damit er mir’n bißchen hilft. Diese Matheaufgaben sind echt bescheuert.«
»Das Beste heben sich die Lehrer eben immer bis zuletzt auf.« Gail lächelte.
»Ich bin froh, daß diese Woche bald rum ist.« Jennifer legte den Fernbedienungsapparat auf den Tisch. »Aber vielleicht sollte ich doch lieber hierbleiben.«
»Sei nicht albern. Du brauchst wirklich Hilfe in Mathe. Mir geht’s gut. Ich hatte sowieso’nen Spaziergang vor.«
»Gute Idee«, sagte Jennifer so laut, daß Gail die Erleichterung aus ihrer Stimme heraushörte. »Dann kannst du mich ja bis zu Eddies Haus begleiten.«
Sie gingen schweigend nebeneinander her. Ein warmer Sommerwind wehte ihnen entgegen, aber die beiden schienen völlig versunken in den Anblick ihrer Schuhspitzen.
»Da sind wir«, sagte Jennifer, und als Gail verdutzt aufblickte, sah sie das rote Ziegelhaus der Frazers vor sich. Ich hab’ gar nicht gewußt, wie nahe Eddie wohnt, ging es ihr durch den Kopf.
»Streng dich an, damit du was lernst!« rief sie ihrer Tochter nach, die schon die Stufen zur Eingangstür hinauflief.
Jennifer winkte und verschwand im Haus. Gail erhaschte einen flüchtigen Blick auf Eddie, ehe die Tür sich hinter Jennifer schloß. Sein Haar ist braun, dachte sie. Oder könnte man es noch aschblond nennen? Vielleicht, wenn die Sonne drauf scheint? Zielbewußt ging sie die Straße entlang. Ein paar Minuten später stand sie vor der Riker-Hill-Schule. Hier hatte Cindy die erste Klasse besucht. Gleich darauf fand sie sich in dem kleinen Park wieder, wo man am letzten Nachmittag im April Cindys Leiche gefunden hatte.
Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel, der Boden war fest und trocken. Gail holte tief Luft. Sie kam sich vor, als betrete sie unbefugt geweihten Boden. Die kleine Anlage konnte man eigentlich
gar nicht als Park bezeichnen. Eine frischgestrichene Bank glänzte grünschillernd im Sonnenlicht. Gail näherte sich ihr vorsichtig, so als fürchte sie, die Farbe sei noch feucht. Langsam setzte sie sich. Sie zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Gail verbrachte fast den ganzen Nachmittag auf dieser Bank. Nichts regte sich. Doch dann war der Park plötzlich voller Kinder. Die Schule war aus; Buben tobten lärmend an ihr vorbei, neugierige Blicke streiften sie. Gail erhob sich rasch und ging zurück nach Hause. Sie beeilte sich mit den Vorbereitungen fürs Abendessen, um fertig zu sein, ehe Jack, Jennifer und Carol heimkamen.
Ihre Schwester kehrte niedergeschlagen aus New York zurück. Das Vorsingen hatte nicht so geklappt, wie sie es sich erhofft hatte. »Das mußt du dir mal vorstellen: Plötzlich hatte ich den Text eines Liedes vergessen, das ich normalerweise im Schlaf singen kann! Na, und danach ging einfach alles in die Hose!« Jack grübelte immer noch darüber nach, woran morgens der Dalmatiner gestorben sei, und Jennifer machte sich Sorgen wegen ihrer Matheprüfung. Niemand hatte sonderlich Appetit, und Gail konnte ihr hastig zubereitetes Abendessen fast unberührt wieder abtragen.
An dem Nachmittag, an dem Jennifer ihre letzte Prüfung hatte, saß Gail zu Hause und wartete aufgeregt auf ihre Tochter. Widerstrebend wanderte ihr Blick zu der neuen Wanduhr. »Sie müßte schon hier sein«, sagte sie zu Carol.
»Wahrscheinlich geht sie mit ihren Freunden noch die Aufgaben durch.«
»Aber nach den anderen Prüfungen ist sie nie so spät gekommen.«
Carol zuckte mit den Schultern. »Heute ist der letzte Tag. Vielleicht ist sie mit ihren Klassenkameraden losgezogen, um ein bißchen zu feiern.«
»Hatte sie das denn vor?«
»Gesagt hat sie’s nicht:« Carol lächelte. »Aber du weißt doch, wie Teenager sind. Wahrscheinlich ist ihnen die Idee ganz spontan gekommen.«
»Das sieht Jennifer aber gar nicht ähnlich.« Gails Stimme verriet Angst. »Wenn sie weggehen wollte, hätte sie mich angerufen. Mein Gott, Carol, glaubst du, daß ihr was passiert ist?«
Gails von Natur aus blasses Gesicht war auf
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